Montag, 27. Dezember 2010

Hypomnemata? Léon Homeyer

Einleitung
Unruhen im Menschenpark
„Du mußt dein Leben ändern“
Technologien des Selbst
„Ich bin ein Experimentator“
Fazit
Literatur
ANMERKUNGEN "Sloterdijks Hypomnema"







Einleitung

Im Juli 1999 hielt Peter Sloterdijk auf Schloss Elmau eine Rede, die auf weiten kulturgeschichtlichen Pfaden zur akuten Debatte der Gentechnologie führen sollte. Diese Rede sorgte für einiges Rumoren in der Presse und führte zu einer öffentlich inszenierten Kontroverse zwischen der Frankfurter Schule und Peter Sloterdijk. Ich möchte im Folgenden nicht die Debatte um den Text „Regeln für den Menschenpark“ diskutieren, sondern das Referat dieses Textes vielmehr als Einstieg in die Problematik der Anthropotechniken nutzen. Sloterdijk führt seine Überlegungen zur Ästhetik des menschlichen Lebens in seinem kürzlich erschienenen Werk „Du mußt dein Leben ändern“, wenn auch in verschobener Weise, fort.
Im folgenden Text werde ich Sloterdijks Versuche über die Anthropotechnik durch Michel Foucaults Untersuchungen zum Thema Subjektivität und Technik kontrastieren. Die „Regeln für den Menschenpark“ werden die subtile Stoßrichtung der anschließend diskutierten Passagen aus „Du mußt dein Leben ändern“ verdeutlichen. Foucaults Technologien des Selbst werden darauf einen anderen philosophischen Ansatz darstellen, der im vierten Abschnitt dieser Arbeit mit Sloterdijks philosophischer Praxis verglichen wird. Ziel dieser Arbeit ist es, aufzuzeigen, dass eine kulturhistorische Argumentation zu einem so brisanten Thema wie dem Umgang mit dem menschlichen Leben eine sehr detailierte und intensive Auseinandersetzung erfordert.
Michel Foucault leistet meiner Ansicht nach eine solche Arbeit auf seine spezifische Weise exzellent, was nicht heißen soll, dass sie jeder anderen philosophischen Vorgehensweise vorzuziehen sei. Vielmehr möchte ich verdeutlichen, wie mannigfaltig sich das philosophische Geschäft darstellt und sich diese „Briefe an Freunde“ auch immer an ihrer Respondenz messen lassen müssen.

Unruhen im Menschenpark

Zwei Bildungsmächte kämpfen in einer „fortwährenden Schlacht um den Menschen, die sich als Ringen zwischen bestialisierenden und zähmenden Tendenzen vollzieht.“1 Der Humanismus, so Peter Sloterdijk in seinen „Regeln für den Menschenpark“, verweist mit seinem Bemühen um eine Zähmung des Menschen durch die richtige Lektüre auf diesen, das animal rationale konstatierenden, Konflikt. Allerdings scheitert der Humanismus am aktuellen Medienkosmos. Die „modernen Großgesellschaften können ihre politische und kulturelle Synthesis nur noch marginal über literarische, briefliche, humanistische Medien produzieren.“2 Die Barbarei präsentiert sich in einer enthemmenden, medialen Unterhaltung mit Dauerausstrahlung. Der homo inhumanus, der unmenschliche Mensch, labt sich, wie in den Amphitheatern der Antike, an Gewalt und Leid. Die Bestialien haben die mediale Oberhand gewonnen.
Seit jeher mahnt eine „vermenschlichende, geduldigmachende, besinnungsstiftende philosophische Lektüre“3 zur Abstinenz, zur Übung der Enthaltsamkeit, von diesen enthemmenden Medien. Der Humanismus richtet sich für Sloterdijk gegen die „entmenschenden Eskalationen“4 und führt den Menschen in seine Entwicklung hin zur Menschlichkeit. Sloterdijk versteht sich in dieser Tradition und noch mehr in ihrer Überschreitung. Als Antwortschreiben zu Heideggers „Brief über den Humanismus“ inszeniert, pflichtet Sloterdijk in „Regeln für den Menschenpark“ Heidegger bei. Heidegger situiert den Menschen als „Nachbarn des Seins“, nachdem er in einer Geburt biologisch zur Welt gekommen ist und in einer Hypergeburt in der Welt zur Sprache gekommen ist. Indem der Mensch sich von seinem tierischen Leben als Säugling abnabelt und ihm die Welt durch die Sprache ontologisch erfahrbar wird zieht er, nach Sloterdijks Heidegger Exegese, ein in das Haus des Seins.5 Orientiert er sich nun nach dem humanistischen Model an einem Ideal des starken Menschen, wird er immer ein Zaungast des Seins bleiben. Doch Heidegger und Sloterdijk zielen mit ihren Bemühungen ins ontologische Herz dieses Gedankenkosmos. „Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert?“6 Zielt ihr Entmenschlichen auf eine Übermenschlichung?
„Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausthiere.“7 postuliert Nietzsche durch Zarathustras Rede. Die Züchtungsthematik, die hier aufgerissen wird, ist nach Sloterdijk für den Humanismus Sperrgebiet. Obgleich dieser mit seinen besänftigenden Bemühungen versucht, den Menschen zu führen und seine „animalischen“ Tendenzen zu unterbinden, bleibt die Natur des Menschen gegeben und wird nicht hinterfragt. Nietzsche allerdings „witterte einen Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe über Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden“8. Die Vision eines Grundkonfliktes über das Programm der „Menschenproduktion“, über die Anthropotechniken, die Sloterdijk hier aus Nietzsches Gedanken hervorholt, präsentiert er gleichzeitig als akute Problematik. Im Lichte aktueller wissenschaftlicher Möglichkeiten, die die Manipulation der menschlichen Natur ermöglichen, scheint die Frage nach dem Umgang mit selbigen unausweichlich. Nach Sloterdijk wird es in Zukunft darauf ankommen, „das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren“9.
Sloterdijks diffuses Plädoyer für eine aktive Rolle des Menschen in der Formulierung des Codex der Anthropotechniken ist auf allerlei Unverständnis und auch heftige Ablehnung gestoßen. Wer mit Nietzsche und Heidegger, zwei Denkern, deren Wirken, ob zu Unrecht oder nicht, oftmals im Kontext der nationalsozialistischen Ideologie thematisiert wird, eine Debatte über den Umgang mit Gentechnik ziert, sollte über eine absehbare Unruhe nicht überschrascht sein. Begrifflichkeiten wie „Geburtenfatalismus“ und „pränatale Selektion“10 haben diese Wirkung nur noch unterstützt. Sloterdijk formuliert und argumentiert in seiner Rede allerdings so fein und gleichzeitig dunkel, dass man nicht klar ausmachen kann, ob er für einen umfassenden Einsatz von Gentechnologie in der „Menschenzüchtung“ plädiert oder doch nur zur Formulierung eines, wie auch immer gearteten Codex der Anthropotechniken, also einer Ethik der Genetik, aufruft. Was sich sicher aus Sloterdijks Rede schließen lässt ist, dass nach seiner Auffassung die Thematik der Selbstzüchtung oder vorsichtiger der Selbstformung eine der zentralen gesellschaftlichen Problemstellungen der Zukunft ist. „Es genügt sich klarzumachen, daß die nächsten langen Zeitspannen für die Menschheit Perioden der gattungspolitischen Entscheidungen sein werden. In ihnen wird sich zeigen, ob es der Menschheit oder ihren kulturellen Hauptfraktionen gelingt, zumindest wieder wirkungsvolle Verfahren der Selbstzähmung auf den Weg zu bringen.“11 Einen umfangreichen Leitfaden für dieses „Minimalprogramm“ der Selbsttechniken scheint er kürzlich unter dem Titel „Du mußt dein Leben ändern“ veröffentlicht zu haben.

„Du mußt dein Leben ändern“
Sloterdijk hat das Schlachtfeld gewechselt. Schon im Vergleich der beiden Titel zeigt sich, dass er scheinbar nicht mehr mit dem universalistischen Anspruch von Regeln für die gesamte Menschheit operiert. Vielmehr konzentriert sich sein Schreiben nun auf das Individuum, genauer auf die geistigen Übungen des Einzelnen. Politische Kontroversen werden so vielleicht vermieden, einzig der Imperativ hinterlässt einen ersten bitteren Nachgeschmack. Allerdings dürfen wir die Formulierung nicht Sloterdijk anlasten, da er sie Rilke und seinem Sonett Archaischer Torso Apollos entliehen hat.
„››Du mußt dein Leben ändern‹‹ - das scheint aus einer Sphäre herzustammen, in der keine Einwände erhoben werden können. Auch ist nicht zu entscheiden, von wo aus der Satz gesprochen wird, allein seine absolute Vertikalität steht außer Zweifel.“ 12 Sloterdijk sieht in diesem Satz das Konzentrat jedweder Religionen, Trainingsanweisungen, Stufenlehren oder Diätologien. Dieser „absolute Imperativ“ spricht mit einer nicht zu hinterfragenden Autorität und generiert eine Vertikalspannung, indem er dem Zuhörer seinen bisherigen status quo als mangelhaft gegenüber einem anderen möglichen Leben präsentiert. Sloterdijks Ausführungen in „Du mußt dein Leben ändern“ folgen eben diesen Vertikalspannungen und versuchen, Züge des absoluten Imperativs in den Werken vergangener Denker, allen voran in denen Nietzsches, zu verorten. Die zentrale Praxis des absoluten Imperativs ist die Übung, also „jede Operation, durch welche die Qualifikation des Handelnden zur nächsten Ausführung der gleichen Operation erhalten oder verbessert wird, sei sie als Übung deklariert oder nicht“13. Sloterdijk richtet seinen Blick also auf die unzähligen Phänomene der Selbsterzeugung und Reflexivität, die wir bis dato in den Kategorien der Ethik, Moral, Religion oder Askese beschrieben haben und möchte sie mit einer veränderten Optik neu bündeln. Er möchte die alten Kategorien zurücklassen und das, nach Sloterdijk für den Menschen wesentliche Streben nach „oben“ unter dem Begriff der Anthropotechnik neu strukturieren. Hier schließt sein Denken, wenn auch unter Weglassung jeglicher Auslassung über genetische Manipulation, an die Thesen aus „Regeln für den Menschenpark“ an. Die Selbstformung des Menschen in den Anthropotechniken erfüllt auch das damals postulierte Kriterium, „daß der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt“14, konzentriert diese Rollen aber augenscheinlich in einer Person.
Sloterdijk unterteilt sein über 700 Seiten starkes Werk in zwei Hauptteile. Den ersten Teil bilden Kapitel mit unterschiedlichen Textreferenzen, die das Phänomen der Anthropotechnik mehr oder weniger unabhängig von einander behandeln. Jedes Kapitel kreist um das Werk und Leben eines anderen bedeutenden Denkers und argumentiert jeweils „für eine akrobatische Ethik“. Hierbei lässt sich allerdings Nietzsches Denken als ein deutlicher Leitfaden identifizieren. Im zweiten Teil konzentriert sich der Autor auf verschiedene Übungsformen in ihrem geschichtlichen Kontext. Ich werde mich im Folgenden ausschließlich auf den ersten Teil und im Besonderen auf die Ausführungen zu Nietzsche und Foucault beschränken.
Für Sloterdijks Projekt, eine allgemeine Anthropotechnologie zu beschreiben, ist das Bild des Akrobaten aus Nietzsches Also sprach Zarathustra zentral. Zarathustra kehrt nach 10 Jahren der Askese aus dem Gebirge ins Tal zurück und trifft in der Stadt auf das Spektakel eines Seiltänzers. Vor der wartenden Menge verkündet Zarathustra seine Lehre des Übermenschen. „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll. Was habt ihr gethan, ihn zu überwinden?“15 Nietzsche beschreibt den Menschen in dieser Rede als ein Zwischenstadium. Er befindet sich auf einem „Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, - ein Seil über einem Abgrunde“16 Jedwede Bewegung, auch der Stillstand, werden in dieser artistischen Szenerie zum Kunststück. Der ständigen Gefahr des Sturzes trotzend ist der Mensch schon grundlegend Akrobat. Er übt seinen Seiltanz von Kindesbeinen, da sein Leben einzig aus diesem Seilakt besteht. Nietzsche lässt Zarathustra nun das Voranschreiten fordern. Das Streben hin zum Stadium des Übermenschen lässt den Menschen liebenswert werden. Das Potenzial seiner Unvollkommenheit und die tägliche „Übung“, die darin besteht den status quo zu beenden und die selbigen paradoxer Weise in eben diesem Üben aufrecht erhält, machen den Menschen aus. Das Negativ zu diesem Bild ist der letzte Mensch. Sein Drängen ist versiegt, seine Ambitionen zerlaufen. Er nimmt seine Umstände an und preist sie als Glück. Der letzte Mensch scheint nicht gestürzt, vielmehr hat er sich dem Seiltanz schon lange verweigert. Schließlich stürzt der Seiltänzer und der verunglückte spricht im Sterben zu Zarathustra: „››Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.‹‹“17
Sloterdijk betont in dieser Szene die Konnotation der „ständigen Dressuren […] und Anpassungen an das Unwahrscheinliche“18 die dem Begriff Übermensch hier angetragen werden. Der Artist über-windet den Menschen, indem er dessen Sphäre schon rein physisch verlässt. Für Sloterdijk wird der Seiltänzer durch sein antrainiertes Können und sein exponiertes Arbeitsfeld zu einem Hervor-Stecher, einem Prominenten. Den Einwänden, man müsse die Seiltänzer-Szene evolutionär lesen und das Vorschreiten des Menschen als eine biologistische Vision Nietzsches verstehen, begegnet Sloterdijk in der Umkehrung der Interpretationsgewalt. Die artistisch-akrobatische Lesart sei gerade angebracht, da sie nicht die „verbrauchte Trennung von Natur und Kultur“ erneuert, sondern durch sie die Evolution selbst als ein ständiges Kunststück des Überlebens neu zu betrachten ist. Die Naturakrobatik bestehe darin, den Mount Improbable, den Berg der Unwahrscheinlichkeit, immer höher aufzuschichten. Über-leben sowie Über-mensch bedeuten eine Steigerung der Unwahrscheinlichkeit. Diese Übereinstimmung lässt ein Nebeneinander der Theorien zu und zwingt Sloterdijks artistisch-akrobatische Interpretation nicht dazu, evolutionäre Elemente aufzunehmen, obgleich der Anschluss leicht fallen würde. „Beim Übergang von der genetischen zur symbolischen oder „kulturellen“ Evolution akzeliert sich der Gestaltprozess bis zu dem Punkt, an dem die Menschen auf die Erscheinung des Neuen zu eigenen Lebzeiten aufmerksam werden. Von da an nehmen Menschen zu ihrer eigenen Innovationsfähigkeit Stellung – und zwar bis vor kurzem fast immer ablehnend.“19 Sloterdijk beklagt den Konservatismus, den Kulturen unweigerlich generieren, um ihren Status zu erhalten, und der die natürlichen, neophilen Tendenzen des homo sapiens unterdrückt. Seine Artistenmetaphysik hat den Schaffenden im Fokus, der mit seinem Werk die Unwahrscheinlichkeit des Lebens noch höher auftürmt. „Nur ein solcher Mensch würde nicht mehr sich selbst als Richtgröße für das Werden der folgenden Generationen setzen – geschweige denn seine Vorfahren.“20 Heideggers Kritik am Humanismus, der den Menschen als Maß aller Dinge setzt, und Nietzsches Idee des Menschen als ein Zwischenstadium, als etwas das überwunden werden muss, werden hier überdeutlich. Sloterdijk möchte mit seiner Artistenmetaphysik das Bestehende „überwandern“, er möchte den vertikalen Rufen Nietzsches neues Gehör verschaffen, indem er die Wege in die Höhe neu skizziert als akrobatisches Üben, das dem Menschen wesentlich ist. Offen bleibt bis hierhin, und wird im Weiteren auch nicht geklärt, wie sich die Ausrichtung nach Vertikalspannung gesellschaftlich auswirkt. Welche sozialen und politischen Folgen hat eine Orientierung am Unwahrscheinlichen in ständiger Übung und Akrobatik, vor allem für denjenigen, der nicht übt?
„Meine Härte
Ich muss weg über hundert Stufen,
Ich muss empor und hör euch rufen:
››Hart bist du; Sind wir denn von Stein?‹‹ -
Ich muss weg über hundert Stufen,
Und Niemand möchte Stufe sein.“
21
Friedrich Nietzsche

Unter dem Titel tragische Vertikalität beginnt Sloterdijks Betrachtung von Michel Foucaults Werk. Hierbei beschränkt er sich auf seine Ausführungen zur menschlichen Existenz und ihrer Vertikaldimension, sowie die späten Arbeiten zur Selbstsorge in der Antike. Zu Letzteren schreibt er: „Für ihn (Foucault) ist der Berg des Unwahrscheinlichen ein Archiv, und die plausibelste Art und Weise, ihn zu bewohnen, ist das Eindringen in die alten Korridore, um die Physik des Archivs zu studieren.“22 Foucaults Analysen der antiken Diskurse und Lebenstechniken liest Sloterdijk selbst als identitätsformende Übungen Foucaults. In Analogie zu den thematischen Inhalten, die Foucaults spätere Arbeiten untersuchen, lässt sich auch sein Philosophieren wieder als Handlung verstehen, als „Exerzitium der Existenz“23. Sloterdijk sieht in Foucaults Arbeiten zur Selbstsorge in der Antike den Grundstein gelegt zu einer Allgemeinen Disziplinik, einer Sammlung der Arten und Weisen zu Üben. Obgleich Foucaults Theorie bei dem Projekt, eine Artistenmetaphysik zu verfassen, somit ein großes Gewicht zukommen müsste, wird sie von Sloterdijk nicht weiter ausgeführt.

Technologien des Selbst

Betrachten wir also Foucaults Arbeit zu den Technologien des Selbst etwas genauer, um ihr Verhältnis zu Sloterdijks Anthropotechnik besser zu verstehen.
„Was ich jedoch erreichen wollte, war, ein positives Unbewußtes des Wissens zu enthüllen: eine Ebene, die dem Bewußtsein des Wissenschaftlers entgleitet und dennoch Teil des wissenschaftlichen Diskurses ist […].“24 Foucault untersucht unbewusste Strukturgesetze, welche verschleiert in Kulturcodes, Sprache, etc. existieren und tradiert werden und unsere empirische Welt konstituieren. Im Nachdenken und Reflektieren über das diskursive Geflecht, in dem man eingewoben ist, besteht die Möglichkeit, Abstand zu gewinnen. Der neu gewonnene Zwischenraum ermöglicht es dem Menschen, seine Umstände zu betrachten, die Diskurse zu verstehen und neu zu (be-)schreiben. Foucaults Diskursanalyse vollzieht sich in der Archäologie der Entstehungsgeschichte selbiger. Indem er die Genese der präsenten Diskursgeflechte von der Antike her nachvollzieht, um ein neues Verständnis zu generieren, das die Entwicklung eines Gegendiskurses ermöglicht. Foucaults Arbeit ist also von Kritik am etablierten epistemischen Raum und Widerstand gegenüber ihm geleitet. Er möchte den vorherrschenden Subjektbegriff der Gegenwart relativieren, indem er die Geschichte der Subjektkonstitution untersucht und alternative Modelle der Subjektivität hervorhebt. Foucaults Genealogie der Diskurse über Subjektivität sollen ihm als „Kontrastfolie“25 zur kritischen Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwart dienen.
In seinen Büchern Sexualität und Wahrheit 2 und 3 betreibt er eben diese Archäologie der Techniken, die das Selbst konstituieren. Jene Übungen und asketischen Elemente der Antike, die er als Wiege des Subjektivitätsgeflechts der Neuzeit identifiziert hat. Die Sexualität und ihre gesellschaftliche Stellung und Ausformung spielt hierbei eine zentrale Rolle, da sie eng mit dem antiken Selbstbild und der politischen Rolle des Individuums verwoben ist. Foucaults Analyse ist sehr umfangreich und ich kann im Rahmen dieser Arbeit nur Blitzlichter selbiger vermitteln.
Die überlieferten Diskurse der Antike, die Foucault betrachtet, sind Problematisierungen der Lebensweise und die mit ihnen zusammenfallenden Praktiken, die „Künste der Existenz“26. Diese Praktiken sind allerdings nicht nur Regulierungen des Verhaltens nach einer moralischen Norm, vielmehr suchen sie das Individuum zu transformieren und sein Selbst nach ästhetischen Werten (und Stil) zu gestalten. Im Gegensatz zur christlichen Pastoralmacht war der Anspruch der Selbsttechniken nicht von universeller Natur. „In dieser [der antiken] Moral konstituiert sich also das Individuum nicht dadurch als ethisches Subjekt, daß es die Regeln seiner Handlung verallgemeinert; sondern im Gegenteil durch eine Haltung und eine Suche, die seine Handlung individualisieren und modulieren und ihr sogar einen einzigartigen Glanz geben können, indem sie ihr eine rationale und reflektierte Struktur verleihen.“27 Es waren Praktiken aus dem Kontext verschiedener philosophischer und religiöser Schulen, mit denen nur eine ausgewählte Schicht konfrontiert war. Diese soziale Differenzierung beinhaltete auch einen Ausschluss der Frauen aus dem Kreis der Adressaten, was nicht gleichbedeutend mit einer Negation ihrer Interessen war. Die Anleitungen zur Selbstsorge waren eine Männermoral, sie bestrebten nur das Verhalten der Männer zu regeln und behandelten Frauen nur über die Machtbeziehung, in der sie zu einem Mann standen. Zentral für die Asketik der Antike, war die Konstitution seiner selbst als „Moralsubjekt“, welches sich in der Ausübung einer gewissen Lebensweise nach festgelegten Praktiken herausbildet. Die antiken Autoren problematisierten den Umgang mit seinem Selbst, die Ausformungen und Ausübungen seiner Begierden, das Verhältnis zu seinem Körper und das sexuelle Verhalten gegenüber einer Frau (in der Ehe) oder einem Knaben, da diese Aspekte eng mit der politischen Rolle des Individuums zusammenhingen. Eine Führungsrolle in der polis einzunehmen setzte voraus, dass man auch Herr seiner selbst war. „Die Selbstbeherrschung ist eine Art und Weise, Mann im Verhältnis zu sich selber zu sein, das heißt, dem zu befehlen, dem befohlen gehört, […] sich selber zu leiten, […]; es handelt sich also darum, gegenüber dem, was von Natur aus passiv ist und es bleiben muß, aktiv zu sein.“28
Der Umfang, den die Anthropotechniken der Antike aufwiesen, reichte von der Diätik, über die aphrodisia, die Angelegenheiten der Liebe, und Bewusstseinsübungen zu Meditationen. In den Schriften zur aphrodisia beispielsweise wird die Unterteilung von aktiv und passiv problematisiert. Während die Rollenverteilung bei einer gemischtgeschlechtlichen Beziehung ohne Zweifel zu sein scheint, wird das Verhalten von zwei männlichen Geschlechtspartnern mit großer „Sorge“ behandelt. Im Gegensatz zur christlichen Pastoralmacht werden der Geschlechtsakt selbst und die unterschiedlichen „physischen“ Praktiken kaum behandelt. Die Sorge der antiken Autoren gilt dem seelischen Befinden und der daraus hervorgehenden gesellschaftlichen Anerkennung der Akteure. Der Exzess und die Passivität waren für einen erwachsenen und freien Mann die moralischen Verfehlungen in der aphrodisia. In den homosexuellen Beziehungen galt die passive Objektrolle einem Sklaven oder einem Jüngling. Gerade die Beziehungen zu letzterem riefen Diskussionen hervor, da es sich um zukünftige freie Männer in der Gesellschaft handelte, die einmal Herr ihrer Selbst sein sollten und womöglich politische Führungsrollen übernehmen würden. Daher entwickelten die Griechen ausgefeilte Praktiken, die die Knabenbeziehungen regelten. Sie forderten Selbstbeherrschung und Zurückhaltung, sowie ein langes und umständliches Werben um den Jüngling. Die Sexualbeziehung wurde an eine gesellschaftliche Initiation gebunden und der Zeitraum für eine solche Beziehung war klar festgelegt.
Die Tugend der sophrosýne, des maßvollen und weisen Umgangs mit den eigenen Begierden, wird auch in anderen Situationen durch Übungen geschult. Die Selbstbeherrschung, enkráteia, wurde nicht nur in Momenten der Lust, sondern auch in Situationen des Leides und der Trauer gefordert. Um diese Kämpfe gegenüber seinen Emotionen und Begierden souverän zu meistern, bedarf es kontinuierlicher Übung. Ein zweifaches Training, das des Körpers und das der Seele, sollte dazu führen sowohl „Entbehrungen leidlos erdulden zu können, wenn sie sich einstellen, als auch [..], Vergnügen ständig auf elementare Bedürfnisbefriedigung zu beschränken.“29 Tägliche Meditationsübungen wie die praemeditatio malorum sind hier zu nennen, eine von den Stoikern sehr stark praktizierte Gedankenübung, in der man sich die schlimmsten, möglichen Ereignisse für seine Zukunft täglich vorstellt. In einem zweiten Schritt, werden die Ereignisse sodann als schon geschehen gedacht. Hierbei soll der Übende nicht an das Leid und die Trauer gewöhnt werden, sondern vielmehr zu der Haltung geführt werden, dass einzig seine Bewertung der Ereignisse ihm Unheil produziert.30 Hinzu kommen asketische, physische Übungen, exercitio, wie das Entbehren köstlicher Speisen nach einer anstrengenden sportlichen Betätigung oder der Verzicht auf andere Annehmlichkeiten. Gespräche, in denen bestimmte Grundwahrheiten und Regeln immer wieder aufs Neue erarbeitet und geprobt werden, runden die täglichen Übungen der Stoiker ab. Diese Übungen sollten nicht von ihrem Ziel getrennt verstanden werden. Vielmehr ist die Übung eine Praxis der Lebenshaltung, die angestrebt wird. Die Übung an sich als Operation ist noch nicht losgelöst von der Praxis eines moralischen Subjekts, vielmehr wird diese beständige Anwendung von Selbsttechniken, das Üben zum anerkannten Leben. Es geht darum, aus seinem Leben ein Werk zu machen.

„Ich bin ein Experimentator“
Hypomnemata sind schriftliche Sammlungen von Wahrheiten. In einem Notizbuch trägt derjenige, der sich um sich selbst sorgt, Sinnsprüche, kurze Argumente und Handlungsanweisungen zusammen, die ihm als Rohmaterial für seine geistigen Übungen dienen. Hierbei geht es nicht darum ganze Theorien zusammenzutragen, sondern um die Übung des Notierens, das Lesen des Aufgeschriebenen, die Reflexion über das Geschriebene und die Diskussion mit sich selbst oder anderen über den Inhalt der Aussagen. Ein hypomnema ist „die Schaffung eines logos bioèthikos, eines Schatzes an hilfreichen Diskursen“31, der dem Übenden bei der geistigen Selbstkonstituierung als Leitfaden dient. Foucault beschreibt drei Momente, durch die die Praxis des hypomnema zur Selbsttechnik wird. Erstens schafft das Schreiben für den Übenden eine „Vergangenheit“ auf die er sich zurückbesinnen kann. Ein kontinuierlicher Strom an neuen Lebensweisheiten und Handlungsanweisungen würde zu einer Zerstreutheit führen, die den Übenden stagnieren lässt. Die Praxis des Notierens rekapituliert das Gelesene und setzt es in Bezug zu den eigenen Einstellungen und Gedanken. Die Sorge um die Zukunft wird gemindert, indem man den Rückhalt des bereits erkannten gewinnt. Zweitens erhalten die notierten Sätze eine neue Wertigkeit. Ihre Wahrheit lässt sich nicht aus dem ursprünglichen Theoriekontext ableiten, sondern wird durch die persönlichen Umstände des Übenden und seine Einstellungen und Gedanken neu definiert. Drittens schließt diese Praxis der „disparaten Wahrheiten“32 keine Einheit aus. Der Übende konstituiert durch das Sammeln einen Korpus an Lehren. Indem er die mannigfaltigen Wahrheiten auswählt und assimiliert, formt er auch seine eigene Identität.
Für den Schreibenden wird das hypomnema zu einem Reflexionspartner. Es entwickelt sich eine Korrespondenz in der Praxis des Lesens und erneuten Notierens, die der Beziehung zwischen Asketen und Gesellschaft gleicht. Foucault betont, das die Selbstsorge immer eines Anderen bedarf, der als Gegenpol dient. „Die Pflicht, über sich selbst zu schreiben, übernimmt die Rolle des Gefährten, sie sorgt für menschlichen Respekt und Scham.“33 Die Korrespondenz als weiterführende schreibende Praxis erweitert die Übung um den Aspekt der Respondenz auf die notierte Darstellung. Der Schreibende zeigt sich in einem Brief dem Anderen und sich selbst. „Der Brief schafft in gewisser Weise ein Verhältnis von Angesicht zu Angesicht.“34 Der Verfasser objektiviert seine Seele und formt somit seine Subjektivität. Foucault fasst zusammen, dass es bei den hypomnemata darum ging, „sich selbst als Subjekt rationalen Handelns zu konstituieren“35 und in der Korrespondenz darum, „den Blick des anderen mit dem eigenen Blick auf sich selbst zur Deckung zu bringen“36.
Blickt man unter diesem Eindruck zurück auf Peter Sloterdijks Werke „Regeln für den Menschenpark“ und „Du musst dein Leben ändern“, so offenbart sich ersteres per Selbstdefinition als Teil einer Korrespondenz. „Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus“ lautet der Untertitel dieses Schriftstücks und Sloterdijk erklärt seine Wortwahl auf den ersten Seiten mit einem Verweis auf Jean Pauls Gedanken über Bücher als dickere Briefe an Freunde. Sloterdijks Korrespondenz gilt hier Heidegger und im selben Schriftzug Nietzsche, eine Übung, seine eignen Gedanken mit denen jener in Deckung zu bringen. In „Regeln für den Menschenpark“ praktiziert Sloterdijk selbst die von ihm beschriebene Praxis der literarischen Telekommunikation des Humanismus. In einer ihrer ältesten Übungen und Erscheinungsformen proklamiert er das Ende selbiger. Sein Antwortschreiben ist für die Öffentlichkeit gedacht, obgleich vielleicht für die einer vergangenen Zeit. Die Sammlung der Anthropotechniken hingegen scheint ein privater Fundus, ein esoterischer Text im engsten Sinne, Sloterdijks hypomnema zu sein. Verschiedene Autoren sammeln sich ohne eine stringente Argumentation um die Thematik der Anthropotechniken. Die notierten Wahrheiten sind losgelöst von ihrer ursprünglichen theoretischer Verantwortung und bilden einen textuellen Übungsraum. Der Text selbst ist eine Praxis und lädt ein zur Übung an ihm. So nimmt es auch nicht wunder, dass Sloterdijk neben dem expliziten Bezug zu Nietzsche, auch eine implizite Aneignung von Foucaults Beobachtungen in „Du mußt dein Leben ändern“ vollzieht. „Wir umkreisen da einen Satz von Marx: Der Mensch erzeugt den Menschen. Wie ist das zu verstehen? Meiner Ansicht nach ist das, was erzeugt werden soll, nicht der Mensch, so wie ihn die Natur vorgezeichnet hat oder wie sein Wesen es vorschreibt; wir haben etwas zu schaffen, das noch nicht existiert und von dem wir nicht wissen können, was es sein wird.“37 Auch in Foucaults Gedanken wird der Einfluss Nietzsches deutlich, der von dem Überschreiten des status quo ausgeht. Seine Reflexion über die eigene Praxis lässt sich in den Gesprächen mit Ducio Trombadori nachvollziehen. „Ich bin ein Experimentator und kein Theoretiker.“38 Für Foucault ist das Schreiben eines Buches eine Übung, eine Erfahrung, die den Schreibenden verändert. Der Vergleich von Sloterdijks Übungs- und Foucaults Erfahrungs-Begriff drängt sich auf. Die Erfahrung ist eine Handlung, die etwas Neues schafft und das Subjekt verändert. In Anlehnung an Nietzsche, Blanchot und Bataille lässt Foucault die Erfahrung auf die Annäherung eines „Nicht-Lebbaren“ zielen, mit der Tendenz, „das Subjekt von sich selbst loszureißen, derart, daß es nicht mehr es selbst ist oder daß es zu seiner Vernichtung oder zu seiner Auflösung getrieben wird.“39 Lesen wird, wie die Praxis des Schreibens, zu einer Erfahrung, die einem dem Zustand vor der Handlung verwehrt. Erfahrungen sind Erkenntnisprozesse, in denen sich das Subjekt zum Erkenntnisobjekt konstituiert. Immer neue, aber auch sich wiederholende, und vielleicht selbst eingeleitete, Erfahrungen bestimmen die Arbeit am foucaultschen Subjekt. Menschen werden nicht aufhören „sich selbst zu konstruieren, das heißt ihre Subjektivität beständig zu verschieben, sich in einer unendlichen und vielfältigen Serie unterschiedlicher Subjektivitäten zu konstituieren.“40 Diese kreative Selbsterkenntnis im Erfahrungsprozess ist für die Sorge um sich selbst zentral. Es handelt sich bei den Übungen der antiken Philosophie um kontrollierte Erfahrungsabläufe, mit der Zielsetzung sich selbst zu definieren und „aus seinem Leben das Objekt einer Erkenntnis oder einer technê, ein Kunstobjekt zu machen“41. Eine gemachte Erfahrung ändert nicht nur die Qualität des Subjekts, sondern auch die Art und Weise der nächsten Erfahrung.
Sloterdijks Übungsbegriff konzentriert sich auf das repetitive Moment. Der Mehrwert einer Handlung definiert sich bei ihm über den Zugewinn an Können in genau dieser Art von Handlung42. Die Arbeit an sich selbst kann für Sloterdijk nur in dieser geregelten Form ernsthaft betrieben werden. Nicht das Experimentieren führt zum Expertentum, sondern die Praxis des Wiederkehrenden. Das unvermeidbare Bild der Steigerung beispielsweise in Form eines Stufenmodels umschreibt Sloterdijk häufig mit dem Zug der Vertikalität. Übende Subjekte streben danach, ihrem Handeln eine andere Qualität zu verleihen, eine andere Ebene zu erreichen. Dieses platonische Thema der Steigerung in die Sphären der Ideenwelt ist eng mit einem Teil der antiken Theorien verbunden und wurde durch die christliche Adaption, beispielsweise in der Reinterpretation der alttestamentarischen Jakobsleiter zur festen Konstante des europäischen Denkens. Leider unterschlägt die Prominenz dieser Karriereleiter der Subjektivität das alternative Verständnis einer ebenen Verschiebung von Qualität. Die platonische Konzentration auf das Selbst sollte zu übermenschlichen Höhen führen, während die Selbstsorge von Seneca, Plutarch oder Epiktet eben im Moment der Subjektivität verweilen und zu einem reflektierten Umgang mit dem Selbst führen will. Foucaults Begriff der Erfahrung schafft in diesem Zusammenhang die Freiheit, unabhängig von einem Besser oder Schlechter zu operieren und die menschliche Praxis der Selbstsorge als subjektkonstituierenden Vorgang jenseits ideologischer Programme zu analysieren. Das bedeutet nicht, dass die Thematik des Überwindens der Subjektivität, wie man das Programm der nietzscheanischen Übermenschen vielleicht anders beschreiben könnte, damit hinfällig wird. Vielmehr ermöglicht diese kulturgeschichtliche Analyse eine reichhaltige und wertfreie Basis für jene Diskussion.



Fazit
Die Sorge um sich selbst und die damit verbundenen Übungen und Erfahrungen sind ein zentrales Thema der Philosophie. Einerseits, weil ihre Diskussion als Ausgangspunkt der Debatten über moralische und ethische Grundsätze, sowie dem Phänomen der Subjektivität dienen kann, andererseits, weil die philosophische Betätigung selbst in ihrem Ursprung ein Teil der Selbstpraxis oder Anthropotechnik war und noch als solche beschrieben werden kann.
Einen Umgang mit Sloterdijks Werken „Regeln für den Menschenpark“ und „Du mußt dein Leben ändern“ zu finden fiel mir schwer, da er aus einem großen kulturgeschichtlichen, literarischen und philosophischen Reservoir schöpft und oftmals die intuitive und ästhetische der stringenten und logischen Argumentation vorzieht. Sein Versuch, Denker, Theorien und Ideologien der letzten zweieinhalb Jahrtausende unter dem Begriffen der Übung und Anthropotechnik neu zu beschreiben, ist eine inspirierende Arbeit, aber bleibt trotz des enthusiastischen Titels unklar in ihrer Aussage. Gerade mit der Lektüre der „Regeln für den Menschenpark“ im Hinterkopf und wegen der Prominenz der Nietzsche- Übermensch-Theorien begegne ich Sloterdijks jüngstem Werk mit Skepsis. Einen übenden, und damit einen sich auf sein Selbst besinnenden Mensch zu fordern, der sich nicht in den überreizenden Medienspektakeln aufgibt, ist eine sinnvolle Überlegung. Allerdings fordert Sloterdijk nicht die Rückbesinnung auf die Bilder des Humanismus, sondern eben auch die Überwindung der Selbigen. Doch gerät dieses Unterfangen meiner Ansicht nach ins Stolpern bevor es losgegangen ist. Ist doch der Weg auf dem das „aktuelle“ Menschsein und seine Subjektivität überwunden werden soll, gepflastert mit subjektkonstituierenden Prozessen. Die Übung als bewusst initiierte und wiederholte Erfahrung bildet das Fundament der neuzeitlichen Subjektivität. Das die aktuell vorherrschende Arbeit am Selbst, so sie denn praktiziert wird, stark von humanistischen Ideen geprägt ist, steht außer Frage. Diese gilt es zu modifizieren und an die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen anzupassen. Überkommen wird man die Subjektivität durch eine Arbeit am Selbst nicht. Zarathustra liebt die Menschen, „welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende“43. Die metaphysische Zielsetzung, also der Status des Übermenschen bleibt schleierhaft und das angebotene Training festigt mehr das Menschsein, als das die das Übermenschwerden fördert. Sloterdijk lässt den Menschen das metaphysische Ziel verschlucken, um ihm im selben Atemzug zu offenbaren, dass nur ein Übermensch diese Kost verdauen kann.
Doch wenn Sloterdijks Forderung den Menschen übersteigt, seine Förderung jedoch nicht, so unterteilt sie die Menschen doch aufgrund ihrer Systematik zwangsläufig. Die für Sloterdijk allgegenwärtige Vertikalspannung und die seinem Übungsprinzip inhärente Stufenlogik lässt sich ohne eine vertikale Differenzierung, ohne ein Besser und Schlechter nicht begreifen. Verbleibt eine solche Differenzierung also zwangsläufig im humanistischen Kosmos der Subjektivierung, so differenziert sie nicht nur zwischen denen, die sich willentlich bestialisierenden Genüssen stumpfer Ausführungen hingeben und jenen, die sich sorgsam um ihr Selbst bemühen und trainieren. Foucault bemerkte in seiner Analyse der antiken Strukturen: „Sich um sich selbst kümmern ist ein Privileg; es ist ein Zeichen gesellschaftlicher Überlegenheit im Gegensatz zu denjenigen, die sich als Diener um andere kümmern oder ein Handwerk ausüben müssen, um leben zu können.“44 Fördert Sloterdijks absoluter, und nicht differenzierender, Imperativ vielleicht nur soziale Diskrepanz?
Der Umgang mit diesen Werken fällt auch dann noch schwer, wenn man Sloterdijks Arbeit mit der anderer Denker stärker kontrastiert, wie ich es mit Foucault in dieser Arbeit versucht habe. Ob dies allerdings noch an der Form liegt oder nun auf dem Inhalt gründet, bleibt weiter zu untersuchen.



Literatur

Foucault, Michel. „Ästhetik der Existenz“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007.
Foucault, Michel. „Der Gebrauch der Lüste – Sexualität und Wahrheit 2“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991.
Foucault, Michel. „Der Mensch ist ein Erfahrungstier“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996.
Foucault, Michel. „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993.
Foucault, Michel. „Die Sorge um sich – Sexualität und Wahrheit 3“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986.
Hadot, Pierre. „Philosophie als Lebensform“. Gatza, Berlin 1991.
Rieger, Markus. „Ästhetik der Existenz?“. Waxmann, Münster 1997.
Sloterdijk, Peter. „Du mußt dein Leben ändern – Über Anthropotechnik“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
Sloterdijk, Peter. „Regeln für den Menschenpark“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1999
Nietzsche, Friedrich. „Also sprach Zarathustra“ 1883. In: Colli/Montinari (Hrsg.). „Nietzsche Werke – Kritische Gesamtausgabe“. De Gruyter, Berlin 1968.
Nietzsche, Friedrich. Gedicht aus: Friedrich, Heinz (Hrsg.). „Friedrich Nietzsche – Philosophie als Kunst“. Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999

ANMERKUNGEN
1 Sloterdijk 1999, S. 17
2 S. 14
3 S. 18
4 S. 19
5 S. 34
6 S. 31
7 Nietzsche 1883, S. 210
8 Sloterdijk 1999, S. 39
9 S. 45
10 & 11 S. 46
12 Sloterdijk 2009, S. 46
13 Sloterdijk 1999, S. 14
14 Sloterdijk 1999, S. 45
15 Nietzsche 1883, S. 8
16 Nietzsche 1883, S. 10
17 Nietzsche
18 Sloterdijk 2009, S. 182
19 Sloterdijk 2009
20 Sloterdijk 2009
21
22 Sloterdijk 2009, S. 243
23 S. 245
24 Foucault 1993, S. 11f
25 Vgl. Rieger 1997, S. 57
26 Foucault 1991, S. 18
27 S. 82
28 S. 110
29 S. 98
30 vgl. Foucault 2007, S. 133f
31 S. 141
32 vgl. 144
33 S. 138
34 S. 148
35 S. 154
36 ebd.
37 Foucault 1996, S. 83
38 S. 24
39 S. 27
40 S. 85
41 Foucault 2007,S. 210
42 vgl. Sloterdijk 2009, S. 14
43 Nietzsche 1883, S. 11
44 Foucault 2007, S. 125
Siehe bei Interesse auch: Wir Üben. Diskussion von Peter Sloterdijk 2009. Philosophische Praxis 2010, ISBN 978-3-00-030183-4, ed.V.M.Roth, SinnPraxis@gmail.com