Donnerstag, 9. September 2010

Das Glück ist ein schwieriger Fall

Michael Hampe, Philosophieprofessor an der ETH Zürich, muss so oder ähnlich gedacht haben, als er sich an seine «Vier Meditationen über das Glück» gesetzt hat, so der Untertitel seines Buches «Das vollkommene Leben». Er entwickelt darin eine raffiniert inszenierte Vielstimmigkeit, eine Auffächerung des Themas Glück, wie es sich für eine ausdifferenzierte Gesellschaft gehört. Wer dem Autor durch die verschiedenen Geschichten folgt, wird sich bewusst, dass Glück auch deshalb ein schwieriger Fall ist, weil es sich nicht in den Plural setzen lässt. Liesse sich dies machen, wäre es schon viel einfacher, glücklich zu sein – jeder auf seine eigene Art und Weise.
Hampe entwirft eine Versuchsanordnung, die es einem erlaubt, die eine oder andere Sichtweise zu übernehmen – und den Rest getrost beiseitezulassen. Mit seinem «fiktiven erzählerischen Rahmen» knüpft der Autor an eine alte, heute beinahe vergessene philosophische Tradition an und belebt sie auf eine erfrischende Weise. Philosophie habe nicht zuletzt mit Erzählweisen zu tun, und gerade wenn es um das gelungene Leben gehe, sei dies eine adäquate Form.
 
 
Vier Ansichten vom Glück
Wir lernen auf den ersten Seiten Stanley Low kennen, der nach der Ablehnung seiner Habilitationsschrift an der Universität Zürich vom Unglück verfolgt und schliesslich von Frau und Kind verlassen wird. Diese Umstände haben dazu geführt, so die fiktive Figur, «dass ich meine Existenz als misslungen betrachten muss». Nun sitzt der unglückliche Gelehrte einsam in Hannover, damit beschäftigt, die vier besten Texte des Wettbewerbs «Die Calenberger Preisfrage» über das Glück für ein Buch zusammenzustellen. Diese unterschiedlichen Stimmen – «ich selbst habe ja nie eine eigene Stimme gehabt», meint der Ich-Erzähler mit dem sprechenden Namen – präsentiert der 1961 in Hannover geborene Michael Hampe den Lesern in eigenständigen Kapiteln.
Erwin Weinberger ist Physiker. Er sieht die Technik und den Fortschritt als die eigentlichen Schrittmacher des Glücks. «Man muss dazu freilich den Fortschritt nicht als eine Bewegung auf ein Ziel hin, auf die Wahrheit oder die Gewissheit verstehen, sondern muss ihn als eine Bewegung weg vom Mythischen, Religiösen, obskur Philosophischen und hin zum Mess-, Berechen- und technisch Beherrschbaren begreifen.» Die Aussagen der modernen Physik und der Evolutionsbiologie seien wahr, die Aussagen über die Erschaffung der Welt durch einen personalen Gott und die Auferstehung des Fleisches dagegen falsch. Weinberger ist optimistisch, dass es dereinst möglich sein wird, auch qualitatives Erleben wie das Glück in eine formale Sprache zu fassen.
 
 
Die Gegenwart erleben
Dieser prominent an erster Stelle platzierten und am längsten geratenen Stellungnahme ist jene der Philosophin Lalitha Dakini entgegengesetzt, die die Problematik eines an Reichtum, Ehre und Lust orientierten Glücksempfindens thematisiert. In der Loslösung von der Warenwelt und der Hinwendung zum gelebten Augenblick – esoterisch spricht sie vom «Erleben der Gegenwart der Atembewegung» – sieht sie einen von der Materie unabhängigen Weg zum wahren Glück.
Allgemein könne man sagen, so die Philosophin mit ihrem selbstverliebten Hang zum Zitieren, «dass das Glück der Seelenruhe von der Fähigkeit abhängt, sorgenfrei zu werden». Michael Hampe, der an der akademischen Philosophie und deren Reglementierung im Nachwort Kritik äussert, lässt diese Position im Unterschied zur ersten nicht sonderlich gut aussehen.
 
 
Glück ist eine Illusion
Mit dem Psychoanalytiker Antonio Rojaz meldet sich dann ein Repräsentant des radikalen Skeptizismus zu Wort. Da Glück auf Erden nicht zu haben ist (das Realitätsprinzip fordert ständig seinen Tribut), solle man das Streben danach gänzlich sein lassen und sich anderen Dingen wie der Schönheit oder Wahrheit zuwenden. Das Unglück des Menschen rühre daher, dass er das letztlich unmögliche Glück möglich machen wolle. Doch das Glück sei, wie die Religion auch, eine Illusion. Nur sei diese im Unterschied zur Religion noch nicht entlarvt worden.
Der vierte und letzte Essay in diesem Wettbewerb stammt von dem Soziologen James Williamson. Er hebt die Interaktion von Menschen und Dingen an einem aktuellen Beispiel hervor: «Menschen passen sich an das Klima an, indem sie heizen, und mit dem Heizen verändern sie das Klima.» Auch wenn aus diesem Grunde Glückserfahrungen nicht planbar seien, so liessen sie sich doch auf einen Nenner bringen: Erlebnisse in «intensiven und trotzdem unbedrohten Situationen».
 
 
In der Differenz liegt das Vergnügen
Als ob dieses vielstimmige Angebot nicht ausreichte, die Bandbreite möglicher Antworten zu umreissen, bringt Michael Hampe noch eine weitere Figur ins Spiel. Es ist der Mitherausgeber Gabriel Kolk, dessen Sicht derjenigen des Autors wohl am nächsten ist. «Die Anerkennung der individuellen Verschiedenheit des Lebens, der Erfahrungen und des Denkens ist zu Recht als Voraussetzung des menschlichen Glücks angesehen worden.» Die Lebensweise prägt die Denkform, mithin die Vorstellung dessen, was gelungenes Leben meint. Eine Nivellierung dieser Differenz, so das Fazit, ist der erste Schritt hin zum Unglück und zur Auflösung friedlicher sozialer Strukturen.
Michael Hampe, angelsächsisch geschult, schreibt glasklar und verständlich. Seine fiktive philosophische Erzählung ist eine Anleitung zum Glücklichsein, die vom «Theoretisieren über das Glück» therapieren soll: Also Hände weg von den gleichmacherischen Ratgebern! Inwiefern der Philosoph damit selber unter die Ratgeber fällt, ist eine diffizile Frage für Dialektiker. Allen anderen wird «Das vollkommene Leben» die Glücksmomente der Unvollkommenheit vor Augen führen.
  So richtig wohl fühlt sich das Glück nur in der Mehrzahl von Guido Kalberer
 
 
2. Socrethics
 
Auszug aus Moral Relativism and the Search for Happiness
 
 
Struktur der Erzählung
In Hampe’s Text wird eine Sammlung von fiktiven zeitgenössischen Philosophen präsentiert, von welchen jeder eine eigene Strategie der Glückssuche verfolgt. Entsprechend dem ursprünglichen Titel des Buches “Stanley Low’s letzte Lektüre über den Tod und das Glück“ verbindet der Autor die Suche nach dem Glück (bzw. die Verhinderung von Leiden) mit Reflexionen über den Tod (bzw. Nicht-Existenz). Es gibt zwei grundlegende Haltungen gegenüber der Nicht-Existenz:
1.      Risiko-Aversion, eine Haltung, welche der Nicht-Existenz den Vorzug gibt gegenüber dem Leiden (bzw. volatilem Glück). In Hampe’s Erzählung strebt Dakini nach der Nicht-Existenz des Ego und Rojaz vertritt die Meinung, dass Glück eine Utopie sei und dass eine Welt ohne Menschen vorzuziehen wäre.
2.      Risiko-Toleranz, eine Haltung welche dem volatilem Glück (und damit auch dem Leiden) den Vorzug gibt gegenüber der Nicht-Existenz. In Hampe’s Erzählung wird Risiko-Toleranz repräsentiert durch die Akteure Weinberger und Williamson.
 
Innerhalb dieser Grundhaltungen unterscheidet der Autor zwischen den folgenden Risiko-Profilen:
1)      Externe Perspektive
a)      Weinberger versucht die Risiken zu reduzieren durch die Veränderung der Aussenwelt (d.h. durch technologischen Fortschritt)
b)      Williamson versucht die Risiken zu reduzieren durch Anpassung an die Aussenwelt
2)      Interne Perspektive
a)      Dakini versucht die Risiken zu reduzieren durch Veränderung der Innenwelt (Selbstkontrolle)
b)      Rojaz versucht die Risiken zu reduzieren durch Anpassung an die Innenwelt (d.h. durch Anpassung an den unvermeidbaren Konflikt zwischen biologischen und kulturellen Anforderungen)
 
Die Strategien der verschiedenen Akteure sind eingebettet in eine Hintergrund-Erzählung, in welcher die Sicht von zwei neutralen Beobachtern zum Tragen kommt:
1)      Low, Philosoph mit einer missratenen akademischen Karriere. Er sollte die Aufsätze (zum Thema Glückssuche) der oben beschriebenen Philosophen bewerten, lehnt es aber schliesslich ab, eine Rangordnung zu erstellen [Kapitel 5]
2)      Kolk, Hobby-Philosoph mit einer missratenen Karriere als Mathematiker. Er ist Lows Diskussionspartner in Bezug auf die Bewertung der Aufsätze [Kapitel 6]
Die Sprache, die Persönlichkeit und der Lebenslauf der beiden Beobachter (insbesondere die Tatsache, dass beide in ihren akademischen Aspirationen scheiterten) macht sie sympathisch für nicht-akademische Philosophen und erleichtert die Identifikation mit ihnen.
Jeder der Akteure hat eine einseitige Wahrnehmung der Realität (der Risiken). Weil aber die gegenteilige Verzerrung auch vertreten wird, ist das Gesamtbild (so wie es die beiden Beobachter Low und Kolk sehen) unverzerrt. Je mehr der Leser Empathie empfindet mit allen Standpunkten, desto mehr bewegt er sich in Richtung einer unverzerrten Sicht der Realität entsprechend dem untenstehenden Diagramm:
 
 
Dakini [Kapitel 3]
Veränderung der Innenwelt
Weinberger [Kapitel 2]
Veränderung der Aussenwelt
Williamson [Kapitel 5]
Anpassung an die Aussenwelt
Rojaz [Kapitel 4]
Anpassung an die Innenwelt
 
 
Ein ähnliches Konzept wird dann wieder auf der Stufe der Beobachter angewendet. Jeder der beiden Beobachter hat ein eigenes Risiko-Profil. Low ist mehr im Leben engagiert als Kolk und erfährt mehr Niederlagen. Low stirbt durch ein selbst provoziertes Risiko, während Kolk die Risiken vermeidet und überlebt. An diesem Punkt wird ein aussen stehender Beobachter namens Aitmatov eingeführt, ein Kunstmaler welcher eine spontane Sicht der Dinge vertritt, eine Sicht ohne Vorwissen. Er assoziiert Lows Tod mit einer transzendenten Art von Harmonie, sodass wir sein Fallen (falling Low) in einem neuen Licht sehen, als einen tolerierbaren Weg zur Erlösung.
Aus: http://www.socrethics.com/www.individual/www.indnorm/VollkommenesLeben.htm

siehe auch: dotatelier !