PHILOSOPHISCHE PRAXIS
tagung igpp 2009
Man kennt sich und begrüßt einander freundlich. Alle sind per Du und auch beim Neuankömmling geht man schnell zum Du über. Und man wird herzlich aufgenommen. Intellektuelle oder akademische Hierarchien kennt man hier nicht, jede Wortmeldung wird als gleich wichtig gewertet. Dadurch, dass die meisten im Fach Philosophie abgeschlossen haben, ist dennoch ein relativ hohes Niveau gewährleistet. Aber da kein Anlass besteht, sich zu profilieren und niemand von den anderen in irgendeiner Form abhängig ist, hat man hier die Möglichkeit, sich [61] im zwanglosen philosophischen Gespräch auszutauschen. Und dadurch, dass man das Hotel /hier philosophierten schon Marx und Engels/ mit Vollpension gebucht hat und man auch während den Mahlzeiten zusammen ist, kennen sich bis zum Schluss fast alle persönlich.
So kommen die Mitglieder der Gesellschaft alljährlich im Herbst zu diesem Treffen der „Internationalen Philosophischen Gesellschaft für Philosophische Praxis“, die eigentlich eine deutsche Gesellschaft ist, und die Zahl der Teilnehmer wächst von Jahr zu Jahr. Letztes Jahr waren es an die siebzig Personen, die sich in Wuppertal trafen.
Man könnte vielleicht glauben, dass sich hier Personen mit dem Beruf des philosophischen Praktikers treffen. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber irreführend. Man müsste vielleicht besser sagen, alle haben die Berufung, philosophische Praktiker zu sein. Der Begriff Philosophische Praxis hat sich denn auch in den letzten Jahren gewandelt. Verstand man früher im Sinne des Gründers Achenbach darunter noch Einzelberatung, so wird heute philosophische Praxis weit gefasst.
Philosophische Einzelberatung ist zwar noch immer das, was die meisten gerne machen würden, aber viele, auch wenn sie das seit Jahren tun, sind von den Möglichkeiten eher enttäuscht und davon leben kann kein einziger. Mit dem berühmten sokratischen Nichtwissen hat man auf dem Beratungsmarkt schlechte Chancen. Er habe einige misslungene Gespräche hinter sich, sagt mir jemand, der früher Arzt war, dann Philosophie studiert hat und sich jetzt nach dem eigentlichen Erwerbsleben als Praktiker versucht. Alle haben andere Hauptberufe, wenn sie nicht Rentner oder Hausfrau/-mann sind, verschiedene andere Berufe, meist Lehrer oder ein anderer Beratungsberuf. Eigentlich ist ja das Projekt Philosophische Praxis als Berufsform, das es nun bereits seit dreißig Jahren gibt, gescheitert. Aber niemand will das eingestehen. Die Tagung dient denn auch dem Zweck, einander Mut zu machen, dass es irgendwann schon gehen wird, dass der Markt philosophische Praktiker braucht (aber das noch nicht weiß).
Einer der Besucher ist Gymnasiallehrer für Philosophie in Barcelona und führt nebenbei eine philosophische Praxis. Er kommt jedes Jahr von Spanien nach Deutschland zur Tagung. Er brauche das einfach, sagt er, und hat bereits den Termin der nächsten Tagung notiert. Auch Anders Lindseth, ein Hochschullehrer aus Norwegen mit langjähriger Erfahrung als philosophischer Praktiker, kommt regelmäßig. Aber manche sind keine philosophischen Praktiker, sie kommen einfach hierher, weil es philosophische Gespräche gibt; sie wären gewissermaßen die Kunden der philosophischen Praktiker und in diesem Sinn kann man sagen, dass es sich nicht um Tagungen philosophischer Praktiker handelt, sondern dass vielmehr philosophische Praxis hier stattfindet. Und zwar, wie der Schweizer Philosoph Johannes Gasser urteilt, auf hohem Niveau. Da sich die Kongresse, wie sie etwa die „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ organisiert, an akademische Philosophen wendet, entwickelt sich die Tagung der IGPP zu einem offenen Ort des Philosophierens für Leute, die einmal Philosophie studiert haben und ein freies, von den Geltungszwängen der akademischen Philosophie freies Gespräch suchen. Diese Tagung bietet denn auch die Möglichkeit zu philosophieren, ohne dass man ständig mit dem „neuesten Stand der Forschung" konfrontiert wird und sich blamiert, wenn man diesen nicht kennt. Aber man tauscht sich auch aus über das, was man gerade macht [62] oder gemacht hat. Das eine widerspricht dem anderen nicht.
Ein spiritus rector des Ganzen ist der Theologe und Psychotherapeut Thomas Polednitschek aus Münster, der pointiert Philosophische Praxis nicht als Beratung, sondern als „Widerstand“ versteht. Auf der anderen Seite des intellektuellen Spektrums steht ebenfalls eine Theologin, die Unternehmen „Wertberatung“ anbietet. Das bedeutet aber nicht Beratung der Unternehmen darüber, welche Werte diese übernehmen sollten, sondern vielmehr darüber, wie sich bereits bestehenden moralischen Grundsätze innerbetrieblich umsetzen lassen, wozu u.a. Motivation der Mitarbeiter gehört. Dabei wird kein Unterschied mehr zwischen Ethik und Moral gemacht, und entsprechend wurde die Frage nach der Rechtfertigung solcher moralischer Grundsätze, also die eigentliche philosophische Frage, von der Referentin nicht verstanden. Diese versteht sich denn auch explizit nicht als Philosophin, sondern als „Ethikerin“.
Polednitschek wird zwar als intellektueller Anreger, aber auch als Stachel erlebt: die meisten verstehen philosophische Praxis eher als Beratung. Wobei die Spannweite groß ist: Sie geht von der Einzelberatung über Reisen mit Gruppen, Anbieten von Kursen bis hin zu Firmenberatung.
Tolerant ist man auch hinsichtlich der Vortragenden: Wer vortragen und aus seiner Erfahrung berichten oder philosophische Fragen erörtern will, meldet dies an. Und fällt der Vortrag aus dem Rahmen, hört man geduldig bis zum Ende mit. Auch gibt es keine harte Kritik, wie sie im akademischen Rahmen üblich ist. Man nimmt alles als Anregung auf. Wobei speziell unternehmerische Themen (an denen auch die Existenzgründungen in der Regel scheitern), wie Kundenwerbung oder unternehmerische Strate [63] gien, zum Leidwesen einiger Teilnehmer nicht behandelt oder gar tabuisiert werden. Irgendwie hat man das Problem, dass Praktiker Geldverdienen als etwas dem Geist Abträgliches, gar etwas Schmutziges zu betrachten scheinen.
Es gibt auch keine dominierende Hintergrundposition, vielmehr nimmt man auf die verschiedensten Klassiker Bezug, oft auf französische Philosophen, von Lacan zu Foucault und Levinas bis Derrida.
...Thomas Gutknecht, der von der Theologie her zur philosophischen Praxis kam und seither Präsident der Gesellschaft ist: Es ist seiner zurückhaltenden und für alles offenen Art zu verdanken, dass sich viele unterschiedliche Geister hier versammeln und sich wohl fühlen. So freut man sich beim Abschiednehmen bereits auf das Wiedersehen im nächsten Jahr.
Artikel von Peter Moser – in: Information Philosophie 1 (2010), S. 61 – 64) gekürzt
Donnerstag, 9. September 2010
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