Sonntag, 26. September 2010

Café Philo Sartre


Moderiert von Thomas Felix Mastronardi fand am 25.9.2010 das zweite Café Philo in der Alten Schmiede Uettligen / BERN statt. Susanna Mani führte in den Text des 3 Personenstücks "Geschlossene Gesellschaft", (frz. Huis clos, geschlossene Türen). In verteilten Rollen wurden Passagen verlesen und es entstand eine muntere Kontroverse zur Freiheitsphilosophie, Aufrichtigkeit und der je eigenen Lebensphilosophie.

Geschlossene Gesellschaft - das sind drei Tote, unentrinnbar für immer zusammengesperrt in einem scheußlichen Empirezimmer, wo das Licht ewig brennt und keine Sekunde Schlaf gegönnt wird. Garcin, ein Journalist, hat seine Frau in den Tod getrieben und war als Politiker in entscheidender Situation feige. Die hochintellektuelle Ines hat eine junge Frau ihrem Mann entfremdet, bis diese zutiefst verzweifelt sich selbst und Ines mit Gas vergiftet hat. Die sinnlich verführerische Estelle hat ihr Kind ermordet und ihren Geliebten in den Tod getrieben. Die Hölle, in der diese drei Verdammten schmoren, bedarf keiner Bratroste und keines sengenden Feuers - sie sind einander selbst Hölle genug. Jeder ist verdammt dazu, die anderen beständig zu quälen und selbst von den anderen gequält zu werden. Die lesbische Ines verzehrt sich nach Estelle, die aber nichts von ihr wissen will und sich an Garcin heranmacht. Garcin wiederum lechzt nach der intellektuellen Anerkennung von Ines. So dürstet jeder nach der Hilfe eines der beiden anderen, aber sich nähernd, verletzt er zugleich zutiefst. Sie können weder voneinander lassen, noch voreinander fliehen, nicht einmal töten können sie sich - sie sind bereits tot! Und so gilt auf ewig: "Die Hölle, das sind die anderen". Trotzdem verlässt Keine/r die Szene, auch dann nicht, wenn die Tür einmal offen ist ...

Jean-Paul Sartre über Geschlossene Gesellschaft:
Wenn man ein Stück schreibt, gibt es immer bestimmte Anlässe und tiefere Gründe. Der Anlass war der, daß ich, als ich um 1943 und Anfang 1944 Geschlossene Gesellschaft schrieb (also nach: DAS SEIN UND DAS NICHTS), drei Freunde hatte, und ich wollte, dass sie ein Stück spielen, ein Stück von mir, ohne dass einer von ihnen dabei bevorzugt wäre. Das heißt, ich wollte, dass sie die ganze Zeit auf der Bühne zusammenbleiben.

Die drei Personen, die Sie in Geschlossene Gesellschaft hören werden, sind insofern nicht wie wir, als wir lebendig und sie tot sind. Natürlich, «tot» symbolisiert hier etwas. Ich wollte einfach zeigen, dass viele Leute in einer Reihe von Gewohnheiten und Gebräuchen verkrustet sind, dass sie Urteile über sich haben, unter denen sie leiden, die sie aber nicht einmal zu verändern versuchen. Und diese Leute sind wie tot. Insofern sie den Rahmen ihrer Probleme, ihrer Ambitionen und ihrer Gewohnheiten nicht durchbrechen können und daher oft Opfer der Urteile bleiben, die man über sie gefällt hat. Von daher ist ganz evident, daß sie zum Beispiel feige oder bösartig sind.

Wenn sie angefangen haben, feige zu sein, so wird nichts die Tatsache ändern, dass sie feige waren. Deswegen sind sie tot, deswegen, damit soll gesagt werden, dass es ein lebendiges Totsein ist, wenn man von der ständigen Sorge um Urteile und Handlungen umgeben ist, die man nicht verändern will. So dass ich also, da wir ja lebendig sind, durch das Absurde die Bedeutung der Freiheit habe zeigen wollen, das heißt der Veränderung des Handelns durch andre Handlungen. In welchem Teufelskreis wir auch immer sind, ich denke, wir sind frei, ihn zu durchbrechen. Und wenn die Menschen ihn nicht durchbrechen, dann bleiben sie, wiederum aus freien Stücken, in diesem Teufelskreis. Also begeben sie sich aus freien Stücken in die Hölle.

Sie sehen also, Beziehungen zu den andren, Verkrustung und Freiheit, Freiheit als die nur angedeutete andre Seite, das sind die drei Themen des Stücks. Ich möchte, dass man sich daran erinnert, wenn man den Satz hört: Die Hölle, das sind die andern.
sartre.odysseetheater.com

Donnerstag, 9. September 2010

Das Glück ist ein schwieriger Fall

Michael Hampe, Philosophieprofessor an der ETH Zürich, muss so oder ähnlich gedacht haben, als er sich an seine «Vier Meditationen über das Glück» gesetzt hat, so der Untertitel seines Buches «Das vollkommene Leben». Er entwickelt darin eine raffiniert inszenierte Vielstimmigkeit, eine Auffächerung des Themas Glück, wie es sich für eine ausdifferenzierte Gesellschaft gehört. Wer dem Autor durch die verschiedenen Geschichten folgt, wird sich bewusst, dass Glück auch deshalb ein schwieriger Fall ist, weil es sich nicht in den Plural setzen lässt. Liesse sich dies machen, wäre es schon viel einfacher, glücklich zu sein – jeder auf seine eigene Art und Weise.
Hampe entwirft eine Versuchsanordnung, die es einem erlaubt, die eine oder andere Sichtweise zu übernehmen – und den Rest getrost beiseitezulassen. Mit seinem «fiktiven erzählerischen Rahmen» knüpft der Autor an eine alte, heute beinahe vergessene philosophische Tradition an und belebt sie auf eine erfrischende Weise. Philosophie habe nicht zuletzt mit Erzählweisen zu tun, und gerade wenn es um das gelungene Leben gehe, sei dies eine adäquate Form.
 
 
Vier Ansichten vom Glück
Wir lernen auf den ersten Seiten Stanley Low kennen, der nach der Ablehnung seiner Habilitationsschrift an der Universität Zürich vom Unglück verfolgt und schliesslich von Frau und Kind verlassen wird. Diese Umstände haben dazu geführt, so die fiktive Figur, «dass ich meine Existenz als misslungen betrachten muss». Nun sitzt der unglückliche Gelehrte einsam in Hannover, damit beschäftigt, die vier besten Texte des Wettbewerbs «Die Calenberger Preisfrage» über das Glück für ein Buch zusammenzustellen. Diese unterschiedlichen Stimmen – «ich selbst habe ja nie eine eigene Stimme gehabt», meint der Ich-Erzähler mit dem sprechenden Namen – präsentiert der 1961 in Hannover geborene Michael Hampe den Lesern in eigenständigen Kapiteln.
Erwin Weinberger ist Physiker. Er sieht die Technik und den Fortschritt als die eigentlichen Schrittmacher des Glücks. «Man muss dazu freilich den Fortschritt nicht als eine Bewegung auf ein Ziel hin, auf die Wahrheit oder die Gewissheit verstehen, sondern muss ihn als eine Bewegung weg vom Mythischen, Religiösen, obskur Philosophischen und hin zum Mess-, Berechen- und technisch Beherrschbaren begreifen.» Die Aussagen der modernen Physik und der Evolutionsbiologie seien wahr, die Aussagen über die Erschaffung der Welt durch einen personalen Gott und die Auferstehung des Fleisches dagegen falsch. Weinberger ist optimistisch, dass es dereinst möglich sein wird, auch qualitatives Erleben wie das Glück in eine formale Sprache zu fassen.
 
 
Die Gegenwart erleben
Dieser prominent an erster Stelle platzierten und am längsten geratenen Stellungnahme ist jene der Philosophin Lalitha Dakini entgegengesetzt, die die Problematik eines an Reichtum, Ehre und Lust orientierten Glücksempfindens thematisiert. In der Loslösung von der Warenwelt und der Hinwendung zum gelebten Augenblick – esoterisch spricht sie vom «Erleben der Gegenwart der Atembewegung» – sieht sie einen von der Materie unabhängigen Weg zum wahren Glück.
Allgemein könne man sagen, so die Philosophin mit ihrem selbstverliebten Hang zum Zitieren, «dass das Glück der Seelenruhe von der Fähigkeit abhängt, sorgenfrei zu werden». Michael Hampe, der an der akademischen Philosophie und deren Reglementierung im Nachwort Kritik äussert, lässt diese Position im Unterschied zur ersten nicht sonderlich gut aussehen.
 
 
Glück ist eine Illusion
Mit dem Psychoanalytiker Antonio Rojaz meldet sich dann ein Repräsentant des radikalen Skeptizismus zu Wort. Da Glück auf Erden nicht zu haben ist (das Realitätsprinzip fordert ständig seinen Tribut), solle man das Streben danach gänzlich sein lassen und sich anderen Dingen wie der Schönheit oder Wahrheit zuwenden. Das Unglück des Menschen rühre daher, dass er das letztlich unmögliche Glück möglich machen wolle. Doch das Glück sei, wie die Religion auch, eine Illusion. Nur sei diese im Unterschied zur Religion noch nicht entlarvt worden.
Der vierte und letzte Essay in diesem Wettbewerb stammt von dem Soziologen James Williamson. Er hebt die Interaktion von Menschen und Dingen an einem aktuellen Beispiel hervor: «Menschen passen sich an das Klima an, indem sie heizen, und mit dem Heizen verändern sie das Klima.» Auch wenn aus diesem Grunde Glückserfahrungen nicht planbar seien, so liessen sie sich doch auf einen Nenner bringen: Erlebnisse in «intensiven und trotzdem unbedrohten Situationen».
 
 
In der Differenz liegt das Vergnügen
Als ob dieses vielstimmige Angebot nicht ausreichte, die Bandbreite möglicher Antworten zu umreissen, bringt Michael Hampe noch eine weitere Figur ins Spiel. Es ist der Mitherausgeber Gabriel Kolk, dessen Sicht derjenigen des Autors wohl am nächsten ist. «Die Anerkennung der individuellen Verschiedenheit des Lebens, der Erfahrungen und des Denkens ist zu Recht als Voraussetzung des menschlichen Glücks angesehen worden.» Die Lebensweise prägt die Denkform, mithin die Vorstellung dessen, was gelungenes Leben meint. Eine Nivellierung dieser Differenz, so das Fazit, ist der erste Schritt hin zum Unglück und zur Auflösung friedlicher sozialer Strukturen.
Michael Hampe, angelsächsisch geschult, schreibt glasklar und verständlich. Seine fiktive philosophische Erzählung ist eine Anleitung zum Glücklichsein, die vom «Theoretisieren über das Glück» therapieren soll: Also Hände weg von den gleichmacherischen Ratgebern! Inwiefern der Philosoph damit selber unter die Ratgeber fällt, ist eine diffizile Frage für Dialektiker. Allen anderen wird «Das vollkommene Leben» die Glücksmomente der Unvollkommenheit vor Augen führen.
  So richtig wohl fühlt sich das Glück nur in der Mehrzahl von Guido Kalberer
 
 
2. Socrethics
 
Auszug aus Moral Relativism and the Search for Happiness
 
 
Struktur der Erzählung
In Hampe’s Text wird eine Sammlung von fiktiven zeitgenössischen Philosophen präsentiert, von welchen jeder eine eigene Strategie der Glückssuche verfolgt. Entsprechend dem ursprünglichen Titel des Buches “Stanley Low’s letzte Lektüre über den Tod und das Glück“ verbindet der Autor die Suche nach dem Glück (bzw. die Verhinderung von Leiden) mit Reflexionen über den Tod (bzw. Nicht-Existenz). Es gibt zwei grundlegende Haltungen gegenüber der Nicht-Existenz:
1.      Risiko-Aversion, eine Haltung, welche der Nicht-Existenz den Vorzug gibt gegenüber dem Leiden (bzw. volatilem Glück). In Hampe’s Erzählung strebt Dakini nach der Nicht-Existenz des Ego und Rojaz vertritt die Meinung, dass Glück eine Utopie sei und dass eine Welt ohne Menschen vorzuziehen wäre.
2.      Risiko-Toleranz, eine Haltung welche dem volatilem Glück (und damit auch dem Leiden) den Vorzug gibt gegenüber der Nicht-Existenz. In Hampe’s Erzählung wird Risiko-Toleranz repräsentiert durch die Akteure Weinberger und Williamson.
 
Innerhalb dieser Grundhaltungen unterscheidet der Autor zwischen den folgenden Risiko-Profilen:
1)      Externe Perspektive
a)      Weinberger versucht die Risiken zu reduzieren durch die Veränderung der Aussenwelt (d.h. durch technologischen Fortschritt)
b)      Williamson versucht die Risiken zu reduzieren durch Anpassung an die Aussenwelt
2)      Interne Perspektive
a)      Dakini versucht die Risiken zu reduzieren durch Veränderung der Innenwelt (Selbstkontrolle)
b)      Rojaz versucht die Risiken zu reduzieren durch Anpassung an die Innenwelt (d.h. durch Anpassung an den unvermeidbaren Konflikt zwischen biologischen und kulturellen Anforderungen)
 
Die Strategien der verschiedenen Akteure sind eingebettet in eine Hintergrund-Erzählung, in welcher die Sicht von zwei neutralen Beobachtern zum Tragen kommt:
1)      Low, Philosoph mit einer missratenen akademischen Karriere. Er sollte die Aufsätze (zum Thema Glückssuche) der oben beschriebenen Philosophen bewerten, lehnt es aber schliesslich ab, eine Rangordnung zu erstellen [Kapitel 5]
2)      Kolk, Hobby-Philosoph mit einer missratenen Karriere als Mathematiker. Er ist Lows Diskussionspartner in Bezug auf die Bewertung der Aufsätze [Kapitel 6]
Die Sprache, die Persönlichkeit und der Lebenslauf der beiden Beobachter (insbesondere die Tatsache, dass beide in ihren akademischen Aspirationen scheiterten) macht sie sympathisch für nicht-akademische Philosophen und erleichtert die Identifikation mit ihnen.
Jeder der Akteure hat eine einseitige Wahrnehmung der Realität (der Risiken). Weil aber die gegenteilige Verzerrung auch vertreten wird, ist das Gesamtbild (so wie es die beiden Beobachter Low und Kolk sehen) unverzerrt. Je mehr der Leser Empathie empfindet mit allen Standpunkten, desto mehr bewegt er sich in Richtung einer unverzerrten Sicht der Realität entsprechend dem untenstehenden Diagramm:
 
 
Dakini [Kapitel 3]
Veränderung der Innenwelt
Weinberger [Kapitel 2]
Veränderung der Aussenwelt
Williamson [Kapitel 5]
Anpassung an die Aussenwelt
Rojaz [Kapitel 4]
Anpassung an die Innenwelt
 
 
Ein ähnliches Konzept wird dann wieder auf der Stufe der Beobachter angewendet. Jeder der beiden Beobachter hat ein eigenes Risiko-Profil. Low ist mehr im Leben engagiert als Kolk und erfährt mehr Niederlagen. Low stirbt durch ein selbst provoziertes Risiko, während Kolk die Risiken vermeidet und überlebt. An diesem Punkt wird ein aussen stehender Beobachter namens Aitmatov eingeführt, ein Kunstmaler welcher eine spontane Sicht der Dinge vertritt, eine Sicht ohne Vorwissen. Er assoziiert Lows Tod mit einer transzendenten Art von Harmonie, sodass wir sein Fallen (falling Low) in einem neuen Licht sehen, als einen tolerierbaren Weg zur Erlösung.
Aus: http://www.socrethics.com/www.individual/www.indnorm/VollkommenesLeben.htm

siehe auch: dotatelier !

Philo Praxis: Aktuelle Beiträge

Neun Pfeiler Philosophischer Praxis
Anette Suzanne Fintz
Institut für Sinnorientierte Beratung

1 Philosophische Praxis als Beruf

2 Nähe und Distanz

3 Idealität

4 Kompetenzen und Grenzen

5 Transparenz

6 Denken weiten – denkend wahrnehmen
Anleitung zum Selber- und Weiterdenken

7 Offener Raum

8 Diskretion

9 Unabhängigkeit im Denken – für beide Seiten





Radolfzell / Bodensee
im Sommer 2010

Ausführungen dazu in: Detlef Staude (Hg.), Methoden Philosophischer Praxis – sollte im Oktober 2010 im transcript Verlag Bielefeld erscheinen; nach Auskunft der Lektorin klappt es nun doch nicht mehr bis zur Buchmesse Ffm

Frau Dr. Fintz wird voraussichtlich am 14.Oktober, "mittags" im Kompaktkurs diese "Pfeiler" mit uns diskutieren.

Kompaktkurs

Ein Hinweis auf den Semesterapparat
(im Aufbau)
darin: frühe Texte von Gerd B. Achenbach
Melanie Berg, Phil. Praxen

folgendes wird noch eingestellt:
Eckart Ruschmann, Philosophische Beratung.
in der Einleitung Hinweise zur Vorgeschichte

Holger Burckhart / Jürgen Sikora (eds) Praktische Philosophie Philosophische Praxis,
darin: Thomas Gutknecht, Das Philosophische Philosophischer Praxis

Neues bringen die links zur Literatur
http://www.igpp.org/cont/literatur.asp


Das OrientierungsLos: Philosophische Praxis unterwegs [Gebundene Ausgabe]
Martina Bernasconi (Autor), Willi Fillinger (Autor), Thomas Gutknecht (Autor), Hans Haessig (Autor), Bernadette Hagenbuch (Autor), Imre Hofmann (Autor), Roland Neyerlin (Autor), Volkbert M Roth (Autor, Herausgeber), Detlef Staude (Autor, Herausgeber), Dominique Zimmermann (Autor), Eva Zoller Morf (Autor)
"Derzeit nicht verfügbar." Jedoch im Semesterapparat

http://www.philosophischepraxis.de/buchhandlung.html von Michael Niehaus (pro-phil)

Kompaktkurs

PHILOSOPHISCHE PRAXIS

tagung igpp 2009

Man kennt sich und begrüßt einander freundlich. Alle sind per Du und auch beim Neuankömmling geht man schnell zum Du über. Und man wird herzlich aufgenommen. Intellektuelle oder akademische Hierarchien kennt man hier nicht, jede Wortmeldung wird als gleich wichtig gewertet. Dadurch, dass die meisten im Fach Philosophie abgeschlossen haben, ist dennoch ein relativ hohes Niveau gewährleistet. Aber da kein Anlass besteht, sich zu profilieren und niemand von den anderen in irgendeiner Form abhängig ist, hat man hier die Möglichkeit, sich [61] im zwanglosen philosophischen Gespräch auszutauschen. Und dadurch, dass man das Hotel /hier philosophierten schon Marx und Engels/ mit Vollpension gebucht hat und man auch während den Mahlzeiten zusammen ist, kennen sich bis zum Schluss fast alle persönlich.

So kommen die Mitglieder der Gesellschaft alljährlich im Herbst zu diesem Treffen der „Internationalen Philosophischen Gesellschaft für Philosophische Praxis“, die eigentlich eine deutsche Gesellschaft ist, und die Zahl der Teilnehmer wächst von Jahr zu Jahr. Letztes Jahr waren es an die siebzig Personen, die sich in Wuppertal trafen.

Man könnte vielleicht glauben, dass sich hier Personen mit dem Beruf des philosophischen Praktikers treffen. Das ist zwar nicht ganz falsch, aber irreführend. Man müsste vielleicht besser sagen, alle haben die Berufung, philosophische Praktiker zu sein. Der Begriff Philosophische Praxis hat sich denn auch in den letzten Jahren gewandelt. Verstand man früher im Sinne des Gründers Achenbach darunter noch Einzelberatung, so wird heute philosophische Praxis weit gefasst.

Philosophische Einzelberatung ist zwar noch immer das, was die meisten gerne machen würden, aber viele, auch wenn sie das seit Jahren tun, sind von den Möglichkeiten eher enttäuscht und davon leben kann kein einziger. Mit dem berühmten sokratischen Nichtwissen hat man auf dem Beratungsmarkt schlechte Chancen. Er habe einige misslungene Gespräche hinter sich, sagt mir jemand, der früher Arzt war, dann Philosophie studiert hat und sich jetzt nach dem eigentlichen Erwerbsleben als Praktiker versucht. Alle haben andere Hauptberufe, wenn sie nicht Rentner oder Hausfrau/-mann sind, verschiedene andere Berufe, meist Lehrer oder ein anderer Beratungsberuf. Eigentlich ist ja das Projekt Philosophische Praxis als Berufsform, das es nun bereits seit dreißig Jahren gibt, gescheitert. Aber niemand will das eingestehen. Die Tagung dient denn auch dem Zweck, einander Mut zu machen, dass es irgendwann schon gehen wird, dass der Markt philosophische Praktiker braucht (aber das noch nicht weiß).

Einer der Besucher ist Gymnasiallehrer für Philosophie in Barcelona und führt nebenbei eine philosophische Praxis. Er kommt jedes Jahr von Spanien nach Deutschland zur Tagung. Er brauche das einfach, sagt er, und hat bereits den Termin der nächsten Tagung notiert. Auch Anders Lindseth, ein Hochschullehrer aus Norwegen mit langjähriger Erfahrung als philosophischer Praktiker, kommt regelmäßig. Aber manche sind keine philosophischen Praktiker, sie kommen einfach hierher, weil es philosophische Gespräche gibt; sie wären gewissermaßen die Kunden der philosophischen Praktiker und in diesem Sinn kann man sagen, dass es sich nicht um Tagungen philosophischer Praktiker handelt, sondern dass vielmehr philosophische Praxis hier stattfindet. Und zwar, wie der Schweizer Philosoph Johannes Gasser urteilt, auf hohem Niveau. Da sich die Kongresse, wie sie etwa die „Deutsche Gesellschaft für Philosophie“ organisiert, an akademische Philosophen wendet, entwickelt sich die Tagung der IGPP zu einem offenen Ort des Philosophierens für Leute, die einmal Philosophie studiert haben und ein freies, von den Geltungszwängen der akademischen Philosophie freies Gespräch suchen. Diese Tagung bietet denn auch die Möglichkeit zu philosophieren, ohne dass man ständig mit dem „neuesten Stand der Forschung" konfrontiert wird und sich blamiert, wenn man diesen nicht kennt. Aber man tauscht sich auch aus über das, was man gerade macht [62] oder gemacht hat. Das eine widerspricht dem anderen nicht.

Ein spiritus rector des Ganzen ist der Theologe und Psychotherapeut Thomas Polednitschek aus Münster, der pointiert Philosophische Praxis nicht als Beratung, sondern als „Widerstand“ versteht. Auf der anderen Seite des intellektuellen Spektrums steht ebenfalls eine Theologin, die Unternehmen „Wertberatung“ anbietet. Das bedeutet aber nicht Beratung der Unternehmen darüber, welche Werte diese übernehmen sollten, sondern vielmehr darüber, wie sich bereits bestehenden moralischen Grundsätze innerbetrieblich umsetzen lassen, wozu u.a. Motivation der Mitarbeiter gehört. Dabei wird kein Unterschied mehr zwischen Ethik und Moral gemacht, und entsprechend wurde die Frage nach der Rechtfertigung solcher moralischer Grundsätze, also die eigentliche philosophische Frage, von der Referentin nicht verstanden. Diese versteht sich denn auch explizit nicht als Philosophin, sondern als „Ethikerin“.

Polednitschek wird zwar als intellektueller Anreger, aber auch als Stachel erlebt: die meisten verstehen philosophische Praxis eher als Beratung. Wobei die Spannweite groß ist: Sie geht von der Einzelberatung über Reisen mit Gruppen, Anbieten von Kursen bis hin zu Firmenberatung.

Tolerant ist man auch hinsichtlich der Vortragenden: Wer vortragen und aus seiner Erfahrung berichten oder philosophische Fragen erörtern will, meldet dies an. Und fällt der Vortrag aus dem Rahmen, hört man geduldig bis zum Ende mit. Auch gibt es keine harte Kritik, wie sie im akademischen Rahmen üblich ist. Man nimmt alles als Anregung auf. Wobei speziell unternehmerische Themen (an denen auch die Existenzgründungen in der Regel scheitern), wie Kundenwerbung oder unternehmerische Strate [63] gien, zum Leidwesen einiger Teilnehmer nicht behandelt oder gar tabuisiert werden. Irgendwie hat man das Problem, dass Praktiker Geldverdienen als etwas dem Geist Abträgliches, gar etwas Schmutziges zu betrachten scheinen.

Es gibt auch keine dominierende Hintergrundposition, vielmehr nimmt man auf die verschiedensten Klassiker Bezug, oft auf französische Philosophen, von Lacan zu Foucault und Levinas bis Derrida.

...Thomas Gutknecht, der von der Theologie her zur philosophischen Praxis kam und seither Präsident der Gesellschaft ist: Es ist seiner zurückhaltenden und für alles offenen Art zu verdanken, dass sich viele unterschiedliche Geister hier versammeln und sich wohl fühlen. So freut man sich beim Abschiednehmen bereits auf das Wiedersehen im nächsten Jahr.




Artikel von Peter Moser – in: Information Philosophie 1 (2010), S. 61 – 64) gekürzt