Donnerstag, 6. September 2012

Kein Glück ? Mike Roth

 (Kaspar-Hauser-) Kontrastprogramm                                                                 „- wo kommt … die Vorstellung des Glücks selbst und seiner Realisierbarkeit eigentlich her? Vielleicht entstammt sie den KURZEN ZEITEN KINDLICHER GEBORGENHEIT … Vielleicht ist sie auch ein Täuschungsmechanismus, der Kindern von den Älteren >>eingebaut<< wird, damit sie mit dem Leben weitermachen … In Werner Herzogs Verfilmung der Geschichte des Kaspar Hauser1828ff , der erst spät als Jugendlicher in die Kultur der Menschen eintritt, … nimmt dieser sein >>Erscheinen auf dieser Welt<< als einen >>harten Sturz<< wahr. Vor seinem gewaltsamen Tod hat er eine Vision (=zeigt Herzog1974) „einen Berg … und viele Menschen, die sind auf den Berg aufgestiegen wie in einer Prozession. Da war viel Nebel. … konnte es nicht klar sehen. Und oben, da war der Tod.“ Hampe2009-173f

Hampe lässt seine Figur, den chilenischen Psychoanalytiker Antonio (4. Kapitel), wie folgt kommentieren: „Offenbar scheint Kaspar Hauser die Glücksvorstellungen, die uns vielleicht als Kindern als ein implizites Versprechen und eine Lebenslast (sic!) eingeimpft wird, nicht mehr in sich aufgenommen zu haben … Die Kultivierung, die er durchlaufen muss, indem er das Sprechen, ordentlich zu essen, das Klavierspiel u.a. lernt, erscheint ihm wie eine anstrengende kollektive Bergsteigerei … In Kaspars (Herzog1974) Vision findet die Kultivierung im Nebel statt, orientierungslos, es bleibt unklar, … wohin sie eigentlich führen soll, außer in den Tod... In seiner (in Herzog1974) letzten Vision scheint es, als sei für ihn die ganze Kultur nichts als ein Irrtum“ S. 175
Der Autor Hampe berichtet S. 281 in seinem Nachwort von Material für „nie fertiggestellte Skizzen für einen fiktiven philosophischen Dialog zwischen Gefangenen im nationalsozialistischen Deutschland über den Tod und das Glück vor ihrer Hinrichtung“, das er nun verwendet habe. In Antonios Meditation folgt der Bezug auf Freuds UNBEHAGEN IN DER KULTUR als >>vielleicht letzte(m) Traktat über das Glück<<.

Michael Hampe, DAS VOLLKOMMENE LEBEN
Vier Meditationen über das Glück , München 2009
Werner Herzog, JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE, 1974
Daumer/Feuerbach, KASPAR HAUSER …, Ffm 1995 (Quelle für die Filme)
Peter Sehr, Kaspar Hauser. DER MENSCH – DER MYTHOS – DAS VERBRECHEN, 1993
Jutta Schlich (ed.)DER MENSCH – DER MYTHOS – DAS VERBRECHEN, 1993 Jutta Schlich (hg), Das Kaspar-Hauser-Syndrom in Literatur – und Film, Forschung und Lehre, Würzburg 1999; darin: Vorwort (u. a. über Alexander Mitscherlichs Vorschlag 1950 den Freudschen Ödipus-Komplexes durch den Kaspar-Hauser-Komplex als Komplex des modernen Massenmenschen zu erweitern) und Vergleich der beiden Filme S.193-203 von Katharina Bollinger und Anja Steinbuch.

Die beiden von Herzog1974 dargestellten „Träume“ finden sich so nicht in dem Bericht des 28jhg. Gymnasialprofessors Daumer, der in Nürnberg noch Hegels Schüler war und in Erlangen Student von Schelling. Daumers Aufschriebe sind auch Hauptmaterial für den  Vater des Philosophen Ludwig Feuerbach, Anselm von Feuerbach, Präsident des königlich bayrischen Appelationsgerichts im fränkischen Ansbach. Daumer hatte den Findling durch Aufnahme in seinen Haushalt „aus dem Turm“ (Gefängnis) befreit und ihn ermuntert, einen Traum vom 2. April 1829 (knapp 1 Jahr nach seinem Auftauchen) niederzuschreiben. Daumer selbst fasst den Inhalt zeitnah wie folgt zusammen (S.249f ): >>Eine schöne männliche Gestalt mit weißem Gewande (HAUSER: „er hat ein weißes Tuch um den Leib hängend“) trat vor sein Bett und reichte ihm einen Kranz mit dem Bemerken, daß er in 14 Tagen sterben werde. H. sagte zurückweisend, er sei noch nicht lange auf der Welt und möge noch nicht sterben, worauf jener entgegnete, es sei umso besser, wenn er ohne lange gelebt zu haben, von der Welt scheide. Der Mann legte den Kranz auf einen Tisch. H. stand auf ihn zu nehmen, da begann dieser zu glänzen und wie er immer heller glänzte, sagte H.: ich will sterben und wachte bald nachher auf.<< Siehe auch : Claudia-Elfriede Oechel-Metzner, Arbeit am Mythos Kaspar Hauser, Ffm 2005, 229 Anm. 45

Herzog1974 löst sich in den Bildern und dem von Bruno S. gesprochenen Text der „Visionen“ von der Daumer/Feuerbachschen Quelle, folgend dem eigenwilligen Konzept EKSTATISCHER Wahrheit baut er eigene innere Materialien ein (und auch Material aus andern Filmen). Am deutlichsten in der eindrücklichen Geschichte, von der Werner Herzog im Interview (DVD) sagt: da ist eine Geschichte, von der ich aber nur den Anfang weiß. Sie bildet im Film Herzog1974 die „Vision von der Wüste“ (Drehbuch), mit deren Mitteilung Kaspar Hauser sich, (im  Film) für´s Zuhören dankend, verabschiedet. Filmisch ist das eine Parallele zur "Vision vom Berg" (s.o.).
Diese für HAMPE2009 zentrale Szene der „Kultivierung im Nebel“ ist übrigens eine Umdeutung der Massenpilgerschaft zu „Reek Sunday“ (Konnotation: Riech-Sonntag), auf „The Reek“, den meernahen Patricksberg bei Westport:

Der Croagh Patrick (irisch: Cruach Phádraig) ist ein 764 Meter hoher Berg im County Mayo im Westen der Republik Irland. Er hat auch den Beinamen The Reek.
Seit Hunderten von Jahren ist der Croagh Patrick zu Ehren des heiligen Patrick eine Wallfahrtsstätte. Im Jahr 441 stieg der Patron Irlands auf diesen Berg, fastete dort 40 Tage lang ...
Am sogenannten Reek Sunday, dem letzten Sonntag im Juli, steigen etwa 25.000 Pilger den Berg hinauf; viele tun dies barfuß(nach Wikipedia) - und kommen, wie man im Film sieht, auch wieder herunter.

Werner Herzog zeigt zunächst den Sprecher und illustriert dann die Traumerzählung mit einer Visualisierung, Steilstück des Berghangs, grobe scharfkantige Steine wie von einer keltischen Trockenmauer, absteigende und aufsteigende Menschen im Nebel. Kaspar Hauser spricht aus dem Off. Herzog vereinfacht in Kontrast zum Bild den Text zu: "viele Menschen, die sind auf den Berg aufgestiegen wie in einer Prozession. Da war viel Nebel." (Nach der kurzen Bergszene, wie auch nach der Wüstenszene, ein Schnitt - zurück zum Sprecher.)
In HAMPE2009 wird freilich nur der vom Filmemacher Herzog dem Hauptdarsteller in den Mund gelegte Text zitiert. Er spricht für die These "Das Glück ist unmöglich" . Dies ist aber freilich nur die halbe Kapitelüberschrift - und ein Teil des Bilds.
Legt man den Text  "auf die  philosophische Goldwaage" so bezieht sich HAMPE2009 nicht auf den immer noch rätselhaften historischen Kaspar H. (von dem ja auch keine Bergvision dokumentiert ist), sondern auf eine Verfilmung, die sich der "Geschichte des Kaspar Hauser" in künstlerischer Freiheit annimmt und gerade dadurch mehr als nur "eine alte Geschichte" zum Thema macht. Hier berühren sich Hampe/Antonio2009 und Herzog/Bruno S. - 1974. HAMPE2009, S. 175: "In Kaspars Vision findet die Kultivierung im Nebel statt, orientierungslos, es bleibt unklar, was mit ihr beabsichtigt ist, wohin sie eigentlich führen soll, außer in den Tod." Aber dies ist eben eine Stimme im "philosophischen Kanon" (S.5)! - einer jam session.

Literatur
Ludwig Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. Verstiegenheit, Verschrobenheit, Maniriertheit, Tübingen 1956
Daumer/Feuerbach, KASPAR HAUSER …, Ffm 1995 (Quelle für die Filme)
Michael Hampe, DAS VOLLKOMMENE LEBEN .
Vier Meditationen über das Glück , München 2009
Werner Herzog, JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE, 1974
Claudia-Elfriede Oechel-Metzner, Arbeit am Mythos Kaspar Hauser, Ffm 2005
Roth / Staude (hg.), Das OrientierungsLos. Philosophische Praxis unterwegs. Philosophische Praxis 1. Taschenbuch Konstanz 2010
Peter Sloterdijk, Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main / Leipzig 2007
Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik. Frankfurt am Main 2009; dazu: Volkbert M. Roth (hg.), Leben ändern? - WIR ÜBEN. PhilosophischePraxis 2.2, Konstanz 2011
Jutta Schlich (hg), Das Kaspar-Hauser-Syndrom in Literatur – und Film, Forschung und Lehre, Würzburg 1999. darin: Vorwort (u. a. über Alexander Mitscherlichs Vorschlag 1950 den Freudschen Ödipus-Komplexes durch den Kaspar-Hauser-Komplex als Komplex des modernen Massenmenschen zu erweitern) und Vergleich der beiden Filme S.193-203 von Katharina Bollinger und Anja Steinbuch.
Peter Sehr, Kaspar Hauser. DER MENSCH – DER MYTHOS – DAS VERBRECHEN, 1993



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