Dienstag, 4. September 2012

WISSENsGLÜCK Mike Roth

NICHTWISSEN & WISSENsGlück


Seid Froh! CHAIRETE philosophoi! Unsere Philanette will uns sicher nur Gutes tun, indem sich mich engagierte; hier in der Rolle quasi eines UMGEKEHRTEN SOKRATES aufzutreten:
DENN WER KÖNNTE DENN NICHT-Wissend  vortragen über    
   W I S S E N   ?

  Es könnte mir also leicht passieren, dass eine/r von Euch mir bald den Sokratischen Spiegel vorhält! Tapfer will ich beginnen ...

DAS PROJEKT: Miteinander Sprechen um zu Wissen

Im Jahr 2011 erschien Michael Hampe´s  TUNGUSKA  (oder das Ende der Natur) und darin wird aus Platon´s PHAIDROS eine Schlüsselstelle zitiert.


Φ : (zeigt Sokrates einen locus amoenus, mit einem eindrucksvollen Baum an einem damals lieblich durch Felder sich schlängelnden Bache  unweit der Stadt Athen) – wie kommt es, dass Du, o Sokrates so wenig hierher heraus gekommen bist?

Σ :  Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume  wollen mich nichts lehren, wohl aber die Leute in der Stadt !
Es sind die Menschen, die miteinander sprechen. Wie aber geht „Sprechen mit dem Ziel zu Wissen zu gelangen“, Sprechen in philosophisch-wissenschaftlicher Absicht der begründeten Antwort auf Fragen?  Die antike Formel lautet: „Λόγον διδόναι“ - verständig Rede und Antwort geben können. Hier soll weder aneinander – PERSONENBEZUG - noch am „Gegenstand“ - SACHBEZUG – vorbeigeredet werden. Wie kann das gelingen? Durch Einführen der Wortbedeutungen in Spracheinführungs­hand­lungen. Platon lässt schon Sokrates sich nach der Verwendung der Wörter bei seinen Gesprächspartnern erkundigen. Sehr viel später wird Wittgenstein einwerfen: Maybe you made the mistake of denying what he said? – nämlich: ohne zuerst zu versuchen herauszufinden, wie die dabei verwendeten Wörter denn zu verstehen sind (so möchte ich ergänzen).

Das Ziel philosophischer Gespräche wurde oft als Erreichen von Übereinstimmung (Homologie – übereinstimmende Rede) umrissen. Dies scheint verbunden mit „geteiltem Wissen“ - , wenn man eine „gemeinsame Sprache“ gefunden hat. In jüngerer und jüngster Zeit wurde aber gerade , wenn es um Lebensfragen geht, ein als „Vielstimmigkeit“ angelegter Gegenentwurf - der Einstimmigkeit als  Ziel entgegengesetzt. Vgl. hierzu etwa Hampes 4 Meditationen über das Glück (2009 DAS VOLLKOMMENE LEBEN) und seine Metaüberlegungen dazu.

Hampe attackiert aber „postmoderne“ Attitüden der Leugnung der Möglichkeit von Wissen überhaupt.  Hierzu ein ausführliches eigenes Beispiel: Wenn man die „natürlichen Zahlen“ einführt mit einem Zählkalkül nach Lorenzen
                => /
             n => n/
ergeben sich ja die Zählzeichen /, //, ///,  „und so weiter“ … Diese Zählzeichen sind Schreibzeichen. Und wir lernen in den meisten Kulturen, sie mit gesprochenen Zählwörtern zu verbinden und sagen dann (wie hier schon beim Lesen) : mach einen Zählstrich, dann füge einen an. Verwende dies zur protomathematischen Rekonstruktion unserer Fähigkeit zu zählen. Du erhältst diese Reihe:
eins , zwei, drei,... „und so weiter“ im deutschen Gedicht der Abzählwörter
one, two, three, ... „and so on“ im englischen Gedicht der Abzählwörter -
und wir lernen diese Gedichte auswendig.
Macht jemand in einer uns bisher unbekannten Sprache beim Handlungsspiel des Abzählens mit, dann können wir die gesprochenen und/oder geschriebenen Abzählwörter den im Herstellungskalkül „natürlicher Zahlen“ entstehenden Zählzeichen zuordnen und uns  so verständigen – trotz unterschiedlicher „natürlicher Sprache“. Und wir können nicht nur sicher zählen, wir können auch über Gleich und Ungleich, Weniger und Mehr, Früher und Später, Endlichkeit und Unendlichkeit philosophieren. Wer Zählen kann (know how) und wer auch Zählen (wie gerade rekonstruiert) versteht (know why) kann darauf aufbauend im WISSEN vorankommen. Zählen ist  eine der Voraussetzungen des gradierenden Vorgehens bei Messungen und Herstellungshandlungen, aber auch bei manchen Geboten (Steuern) und Verboten (Geschwindigkeitsbegrenzungen).


Hier lassen sich die für das Argumentieren wichtigen „logischen Operatoren“ ALL-Quantor, EXISTENZ-Quantor (es gibt …) und dessen Negation (kein)  in einem geregelten Dialog illustrieren.
Ein Proponent stellt eine logisch zusammengesetzte Behauptung auf und ein Opponent bemüht sich, sie zu widerlegen.  Beispiel Existenzquantor:
    Proponent: Es gibt eine größte Zahl.
    Opponent: Zu jeder im Zählkalkül hergestellten Zahl n konstruiert man im nächsten Schritt n /, die um Eins größere Zahl. Also gibt es  keine größte.

Die Widerlegung von Allsätzen erfolgt durch Gegenbeispiele.
    Proponent: Zu jeder Zahl n gibt es eine nächstgrößere.
          Und der Opponent kann nur nicken angesichts der     Regel : n => n /
denn auf jede Zahl, die  als Gegenbeispiel angeführt wird, lässt sich diese     Regel anwenden. Der Proponent hat in diesem Fall also eine leicht nachvollziehbare Gewinnstrategie.

Die formale Logik (früher auch „mathematische Logik“ genannt) untersucht die logisch  zusammengesetzten Aussagen, die schon aufgrund ihrer Form zu sicherem Wissen führen. Neben den Quantoren treten auch die „Junktoren“ auf:
Alle Menschen sind sterblich UND Sokrates ist ein Mensch.
-Daraus folgt logisch:  ?

ELENCHOS: In der Darstellung durch seinen Schüler PLATON in dialogischen Vorlese-Stücken folgen Sokrates und seine Mitspieler einem Muster, dem ELENCHOS (argumentierender Nachweis), einer frühen Form dialogischer Logik. Dieses halbformale Verfahren führt  nicht zum Wahrheitsbeweis, vielmehr zur Widerlegung des grundlos für wahr Gehaltenen.
  Trifft (vielleicht) ... die Aussage Xenophons zu, dass Sokrates die Gesprächsführung auf die jeweiligen Gesprächspartner abstimmte, im Falle (gutbezahlter) Sophisten also auf  Widerlegung ihres vorgeblichen Wissens … , im Falle seines alten Freundes  Kriton  aber auf ernsthafte Wahrheitssuche ?
 In der Überlieferung Platons leitet der Gang der Untersuchung oft nicht in gerader Linie von der Widerlegung vorgefasster Meinungen über zu einem neuen Wissenshorizont. In Platons Dialog Theaitetos werden beispielsweise drei Auffassungen von Wissen besprochen, ohne eine übereinstimmende Bewertung zu erzielen. Mitunter sind es nicht nur die Gesprächspartner, die in Ratlosigkeit verfallen, sondern, weil er selbst keine abschließende Lösung anzubieten hat, auch Sokrates. So zeigt sich nicht selten „Verwirrtsein, Schwanken, Staunen, Aporie, Abbruch des Gesprächs“  wiki/Sokrates

Es gelang Ludwig Wittgenstein (zeitgleich mit anderen Logikern) im Tractatus logico-philosophicus durch seine „Wahrheitstafeln“ eine vollständige Übersicht über die möglichen junktorenlogischen Verbindungen von Aussagen.
In dieser kombinatorischen Zusammenstellung treten nur die beiden Wahrheitswerte w und f (für  wahr und falsch) auf.
(In späteren mathematischen Weiterentwicklungen zur „mehrwertigen Logik“ wird daher gern vom Sonderfall der „zweiwertigen Logik“ gesprochen. Dieser zweiwertigen Logik gaben Lorenzen, Lorenz und andere ein dialoglogisches Fundament und zeichneten sie dadurch für die philosophische Bemühung um die Wahrheit aus.)



Von den Zahlen und der Logik zu den geometrischen Figuren und zur EINSICHT. In Platons Dialog MENON wird danach gefragt, ob sich der Flächeninhalt eines Quadrats verdoppeln lässt. Bitte versuchen sie es. (Zettel mit einer Rechenkästchen-Linierung werden verteilt)

Ich warte … Wollen Sie sich mit Ihren Nachbarn austauschen?
Gibt es eine Hilfslinie, die weiterhelfen würde?

Hier kann man die schlagartige EINSICHT erleben!

Auflösung
Zwischenergebnis: es ergab sich in einem ersten Schritt die halbe Fläche und zwar nicht in einem Quadrat, sondern in einem gleichschenkligen (und rechtwinkligen) Dreieck. Zwei dieser Dreiecke ergeben das Ausgangsquadrat. Anders zusammengesetzt ergibt sich aber wieder ein gleichschenkliges Dreieck, nur doppelt so groß. Und zwei solcher Dreiecke (=4 Ausgangsdreiecke) sind also die Lösung! Auch hier spielt das Zählen, (sowie: das Teilen und das Zusammenfügen) eine Rolle. Aber auch das Springen von einer Form (Viereck) zu einer darin enthaltenen anderen Form (Dreieck) und zurück zum quadratischen Viereck.
Dies SIEHT man lange nicht. Dann aber kommt historisch – vielleicht ausgehend von der Neuzuteilung des durch den Nil überfluteten fruchtbaren Ackerlands – die geo (Erde) metrische EINSICHT.

Es lässt Platon im Dialog „Menon“ den Sokrates die Lösung aus einem nie in Geometrie unterrichteten kleinen Jungen herausfragen. Ein -abschreckendes- Beispiel für´s Philosophieren mit Kindern?
Ausgangspunkt im MENON ist aber die Frage des frisch nach Athen gekommenen jungen Mannes, ob Tugend lehrbar sei. Reformuliert: gibt es begründbare Sätze der praktischen Philosophie? Beruht   glückendes gutes Leben auf einem Können, das sich wie Handwerkskunst lernen und dann ausüben lässt?

Von Wittgensteins Gedankenexperimenten angeregt benutzen wir die fiktionale Kraft der Sprache zur Beschreibung einer vereinfachten Welt. In ihr werden nur
HÄNDELN 
FÜSSELN
MÜNDELN
SCHLAFELN
unterschieden.  Diese übersichtliche Welt ist also anfangs nur viergeteilt, die Anlehnung an die deutsche Muttersprache dient mir hier zur Abkürzung, die leichte Abweichung in der Lautgestalt soll uns daran erinnern, dass wir es mit noch ungegliederten „Vor-handlungen“ zu tun haben. In der deutschen Gegenwartsprache ist die Gliederung „der Welt“ freilich viel feiner. Kürzlich  hielt Bernhard Josef Sylla einen Gastvortrag an der Konstanzer Uni zu  Wilhelm v. Humboldts 4 Bestimmungen von Sprache, auf den ich mich an dieser Stelle gerne beziehe, denn das Geflecht dieser Humboldtschen Bestimmungen wirft auch ein Licht auf das Vorgehen in der konstruktivistischen Behandlung unseres Themas, der Bemühung: Sprechen-um zu-Wissen. (Diskussion)
Jürgen Mittelstraß hat die sprachphilosophische Wende (linguistic turn) der neueren Philosophie und das „Retten der Phänomene“, beginnend schon in der klassisch griechischen Aufklärung, in Beziehung gesetzt. Er hat aber insbesondere auch das Know-how der neuzeitlichen Werkstätten als ein wichtiges Element zur Entstehung der empirischen Einzelwissenschaften aufgewiesen.Übrigens: Schon Karl Marx zitierte 1867 im KAPITAL den Renaisance-Denker Vico:  „wir verstehen nur, was wir selbst gemacht haben“ ; dies steht in einem Spannungsverhältnis zu:  „sie wissen es nicht, aber sie tun es“, womit Marx die gegenwärtig globale „indirekte Vergesellschaftung“ kommentiert.  Darauf komme ich einandermal  zu sprechen.
Kuno Lorenz  reflektiert, wie wir uns zurückdenkend an unsere Handlungen fundamentale sprachliche Unterscheidungen rekonstruieren können. Sprache hat ja praktische, soziale und auf Wissen bezogene , „epistemische“ Aspekte.



Dieser doctor subtilis der Erlanger Schule, Kuno Lorenz, fasst das >Erleiden< in dialogischen Elementarsituationen als eine dialogische Rolle, nämlich die Rolle des jeweils gerade Nicht-Tätigen und nimmt dabei Bezug auf die „beiden grundlegenden Kategorien ποιεῖν (poiein=tun) und πασχεῖν (pas-chein=erleiden) des Aristoteles, DIALOGISCHER KONSTRUKTIVISMUS (DK) 31. (Der Ausdruck >Elementarsituation< ist analoge Bildung zu >Elementaraussage<, womit der methodische Aufbau bei Kamlah/Lorenzen beginnt.) In DK heißt es dann weiter: „die dialogische Elementarsituation ist der an einem Wittgensteinschen Sprachspiel in stilisierter Form herauspräparierte Handlungsanteil, ein >Handlungsspiel<, werden doch von Wittgenstein nichtsprachliche Handlungskompetenzen nur zusammen mit Sprachhandlungskompetenzen mithilfe von Sprachspielen >gemessen<. Aber nicht nur Personen, auch alle weiteren, in der Beschreibung nicht ausdrücklich auftretenden Situationsbestandteile, z.B. das Wasser beim Schwimmen, die Orte beim Bausteinebringen … gehören nicht … zur dialogischen Elementarsituation“, sind „abgeblendet“. „Eine dialogische Elementarsituation liefert einen erleuchteten >Vordergrund< vor einem noch dunklen >Hintergrund<. Das durch eine dialogische Elementarsituation im ständigen Rollenwechsel von aktivem Tun und passivem Erleiden erzeugte Können kann sowohl als Ausbilden einer Handlungskompetenz bezeichnet werden … als auch als Gewinnen einer Handlungssituation: Schwimmhandlungen und Schwimmsituationen..., also >Lebensform< und >Lebensraum< sind noch ununterscheidbar.“ (Kuno Lorenz macht auf diesen Zwischenstand im work in progress aufmerksam, indem er hier von „Prähandlungen“ spricht. Um von „Handlungen“ reden zu können bedarf es der Aufhellung auch des hier noch dunklen Hintergrunds.) DK 31f , in: WIR ÜBEN p.26


Wissen ist ein Können. Wissend kann ich Fragen nach dem Weg zu meinem Wissen zutreffend beantworten.

Der Sohn und zunächst Nachfolger eines Handwerkers, Sokrates, nahm das praktische Herstellungswissen der freien Handwerksmeister seiner Zeit zum Urbild des Wissens. Wer ein Handwerk kann, kann davon einen tätigen Beweis geben, das gelungene Werk. Und sie oder er können, was sie können, lehren. (Diese Argumentation ist verwandt mit dem Zusammenhang von Ergon/έργον   und   Energeia/ενέργεια   in der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts. / Sprachgemeinschaft)

Der neuzeitliche Übergang zu kapitalistischer PRODUKTION trennt das subjektive Wissen ab von der unmittelbaren Anwesenheit der Wissenden. Unmittelbar anwesend ist im industriellen Arbeitsprozess „die Maschinerie“  - mit Arbeitsplätzen für maschinenbedienende Industriearbeiter, die selber in vielen Fällen nur noch ein durch kurze Einweisung erhaltenes know-how brauchen. (Der direkte Maschinenkontakt ist übrigens in Deutschland an ausreichende Sprachkenntnis gebunden, damit die vorschriftsmäßig anzubringenden Arbeits-sicherheitsbestimmungen verstanden werden.)
Wissen wird zu Technik objektiviert, in der technischen Ausstattung des modernen Alltagslebens nimmt es Gestalt an als „objektiver Geist“ (gewöhnlich wird dieser Ausdruck für Institutionen und Kunstwerke gebraucht). So leben wir nicht nur in Sprachgemeinschaften, sondern die „globale Wohngemeinschaft“ (Sloterdijk 2009,    ) ist als Technikgemeinschaft Wissens- und Nichtwissens­gemeinschaft. Das epochale Wissen ist in der global sich ausbreitenden Technik objektives Skelett unserer Bewegung (Fortschritt) und das Nicht-Wissen (know whatelse bezüglich Technikfolgen) stellt unsre zunehmende Gefährdung im „Haus des Seins“ (Nietzsche/Heidegger) dar.


Gewusst oder nur noch nicht falsifiziert?
Wohlrapp versus Popper
Die philosophische Wissens- oder Wissenschaftstheorie mag angesichts dessen vielleicht als nicht ganz zeitgemäß erscheinen?
Es gibt ja die scherzende Ansicht, dass es keine Gesunden gibt, sondern nur: noch nicht hinreichend Untersuchte und Kranke. Entsprechend die nur Falsifizierung gelten lassende Ansicht.
Hier verweise ich  zur ausführlichen Auseinandersetzung mit dieser –auch in den Reihen von philopraxis- populären Ansicht auf Arbeiten von Harald Wohlrapp.


In Erinnerung ist mir vom Beginn meiner Erlanger Zeit  der Gesprächszirkel LOGIK & GRAMMATIK (1965), der mich zu meiner Diss „EINIGE LOGISCHE STRUKTUREN DEUTSCHER GEGENWARTSSPRACHE. Zur Verwendung der Prädikation beim BERATEN“ anregen sollte. (Es blieb dies ein volkssprachbezogener Seitenast  in der „Erlanger Schule“) Mein Gedanke dabei war, ob nicht die Zugehörigkeit zur deutschen Sprachgemeinschaft schon Kenntnis (know how) logisch begründbaren Vorgehens einschließe, was BEIM BERATEN in der Öffentlichkeit wirksam werden kann. Man sagte mir am Schreibtisch manchmal Bescheid, wenn eine Diskussionsleitung bei einer der damals häufigen Vollversammlungen gebraucht wurde und da konnte ich, wenn die Versammelten mich wählten, die gerade bei Lorenzen gelernten Unterscheidungen öffentlich  einsetzen: was nicht mit überzeugenden Gründen verlangt oder verboten werden kann, ist freizustellen. Dies Motto verband sich gut mit dem bewegten und bewegenden Zeitgeist von ´68 !
Von der Sprachphilosophie zur Sozialphilosophie
oder: einen Text verstehen wollen  / Neue Marx-Lektüre
Gegen Ende meiner Universitätsausbildung durch die (leicht verspätete) süddeutsche „Studentenbewegung“ neugierig geworden, konzentrierte ich mich erst als junger Dozent  an der Reformuniversität Konstanz auf die Mikrolektüre der 3 Bände KAPITAL (aber siehe: Glaser)           – in der Annahme, dass sich hier der systematische Kern „kritischer Theorie“ zeigen müsste, wenn es einen solchen gab.
Die dialogische „Prozedur, welcher sich das natürliche Bewusstsein bei dem Eintritt in das spekulative Denken unterwirft“ (Glaser nimmt Hegels Redeweise auf) lässt sich kurz so summieren:
1. „Das spekulative (systematische) Denken mutet an keiner Stelle dem natürlichen Bewusstsein (Alltagsverständnis) zu, sich aufzugeben. Vielmehr baut es auf diesem in einer eigentümlichen Art auf und überführt es in etwas, was immer noch es selbst und zugleich nicht mehr es selbst ist.“
2. Das „natürliche Bewusstsein“ darf „auf seinen sämtlichen Erfahrungen beharren – unter der Voraussetzung, dass es die Geltendmachung seiner Erfahrungen dem Anspruch des spekulativen Denkens unterwirft, sich von diesem den systematischen Ort vorschreiben lässt, an dem es jeweils mit seinen Erfahrungen argumentiert. ... es muss bereit sein, Einwände zurückzustellen, bis die systematische Theorie die Stelle erreicht hat, wo sie erörtert werden sollen.“
3. In der „Artikulation seiner Einwände ist am Anfang des systematischen Vorgehens das natürliche Bewusstsein“ unbeschränkt. „Der mit der Systematisierung der Erfahrungen“ – des Alltags – „einhergehende kategoriale Fortschritt grenzt dann die Möglichkeiten ein, wie das natürliche Bewusstsein“ –im Dialog mit dem systematischen Denken – „seine Erfahrungen einbringen kann.“
4. „Die Analyse endet dort, wo das natürliche Bewusstsein die Herkunft der in ihm herrschenden Kategorien aus den durch die systematische Analyse aufgedeckten ... Verhältnissen erkannt hat ... Damit hat sich das natürliche Bewusstsein im systematischen spekulativen Denken aufgehoben, ohne je seine Erfahrungen aufgegeben haben zu müssen.“ In der von Kuno Lorenz herausgegebenen Lorenzenfestschrift „Konstruktionen versus Positionen. Beiträge zur Diskussion um die konstruktivistische Wissenschaftstheorie“ (Berlin / N.Y. 1979) unter dem Titel „Das dialektische Denken und das natürliche Bewusstsein“ von Ivan Glaser veröffentlicht.
Ich hatte (auf dem Stuttgarter Hegel-Kongress 1975 „Ist systematische Philosophie möglich?“) die Frage aufgeworfen, ob nicht mit Habermas Starnberger „Rekonstruktion des Historischen Materialismus“ (durch sicherlich spannende neue Erkenntnis über die neolithisch/steinzeitliche „Revolutionierung“ mensch­licher Lebensverhältnisse) ein Weg eingeschlagen werde: MIT MARX AN MARX VORBEI, indem ich forderte, die synchrone  Theorie Histomat 1 (epochale Kapitalismus­analyse) von Histomat 2 (epochenübergreifende Entwicklung) zu unterscheiden. Glaser konnte an die Unterscheidung von unvereinbaren Bestandteilen anknüpfend zur These verschärfen: nur wegen der Breitenwirkung des „schwächeren Teils“ habe sich der Marxismus durchgesetzt. „Die große Autorität, die sich Marx und Engels in der Arbeiterbewegung erworben haben, beruht nicht darauf, dass sich Marx und Engels mit ihren eigentlichen wissenschaftlichen Werken durchgesetzt haben.“  (So Glaser)  „Sie haben sich vielmehr Autorität erworben, indem sie (mehr oder weniger willkürlich) Kompromisse mit dem herrschenden Bewusstsein dieser Bewegung eingegangen sind“ Ivan Glaser, Die historische Dimension der dialektischen Theorie. In: Mittelstraß/Riedel (Hg.), Vernünftiges Denken. Studien zur praktischen Philosophie und Wissenschaftstheorie. Wilhelm Kamlah zum Gedächtnis, Berlin-New York 1978, S. 300 .


Paul Lorenzens Wiederaufnahme des griechischen ΆΓΩΝ (Wettkampf) in der Konzeption einer dialogischen Logik und Hegels Eintreten für eine Versöhnung von spekulativem Denken und natürlichem Bewusstsein werden von Ivo Glaser so verbunden, dass darin die Möglichkeit eines dialogischen Selbstverständnisses für die formanalytische Rekonstruktion des Stoffs der systematischen Kapitalanalyse gesehen werden kann.  (Diese ist bisher ein Fragment, doch nach meiner Meinung immer noch Kern kritischer Sozialphilosophie unserer Epoche. Work in progress)
Die Übernahme von Glasers Fassung  des  sozialphilosophischen Dialogkonzepts lag (für mich) nahe angesichts des schon von Wittgenstein praktizierten Verfahrens der Spracheinführung ausgehend vom Alltagshandeln. Darüberhinaus erinnern die  umrissenen sozialphilosophischen „DialogREGELN“  an die Zusammen­arbeit von Proponent und Opponent in Dialogen, in denen die Gültigkeit von Aussagen, die logische Funktoren enthalten, geprüft wird.




HERMENEUTIK

Für Jürgen Habermas war nach der Debatte um REKONSTRUKTION http://marx101.blogspot.com/2009/05/iii-kapitalistisches-produzieren.html  die Marx-Rekon­struk­tion bald kein Thema mehr.

In der Neuen Marx-Lektüre ging sie aber weiter
 Es gibt keine Re-Vision ohne Meinungsstreit. Dabei ist neben „Revisionismus“ (für mir Nahestehende damals ein Abgrenzungs-Terminus) der komplementäre Befund des Dogmatismus in solchem Streiten naheliegend. Und natürlich verstand sich unser ungebundener „Montagskreis“ als undogmatisch. Im Bemühen um das Verstehen eines uns wichtigen Textes fragten wir uns selbst und gegenseitig: ist dies ein >Weg zum Kern< oder ein >Weg vorbei< an noch fortdauernd gültiger, rekonstruierbarer Einsicht? Manchmal halfen Debatten weiter. Manchmal Archive. (Reisen mit Glaser ) Manchmal gibt es Entdeckungen in der Einsamkeit und Freiheit des Selberdenkens – ausgehend von Bekanntem und doch darin plötzlich Neues sehend.
Ich komme zum Ende
Nach der Klarheit im Umgang mit dem Zählen, der Klarheit dialogischer Logik und dem platonischen Erlebnis der EINSICHT in der Geometrie haben wir uns der gewöhnlichen Arbeit von Philosophen genähert, nämlich: Texte der Philosophen  verstehen zu wollen.  Und offenbar  gibt es bei diesen inhaltlichen Fragen  lange Zeit unterschiedliche Meinungen. Wir haben es mit Projekten, mit Systemfragmenten zu tun. Wir wissen, dass erst die gelungene Darstellung, das abgeschlossene System  - den Anspruch auf Wissen einlösen könnte. Wir befinden uns aber (meist?) von diesem Ziel entfernt.
Dialogisches Philosophieren hat Berührungsflächen mit systemischer Beratung. Der  orakelnd einprägsame Spruch des Sokrates:
        Ich weiß, dass ich nicht weiß
            oîda ouk eídōs

(Wörtlich übersetzt heißt der Spruch „ Nicht-Wissend weiß ich“ . „Das häufig ergänzte „-s“ an „nicht“ ist ein Übersetzungsfehler, da die Phrase „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ auf Altgriechisch οἶδα οὐδὲν εἰδώς (oída oudén eidós)[4] heißen würde“) Wikipedia: Ich weiß, daß ich nichts (!) weiß

tönt
                    frei übertragen als
    Nicht-wissend weiß ich (bald mehr)

 wie ein Mantra auf dem Weg zur Neutralität oder „Allparteilichkeit“. In der Rolle des Nicht-Wissenden ist ein Philosophischer Praktiker wie ein konstruktiv-systemischer  Berater  lösungsorientiert am Denken (der >episteme<) aller Beteiligten interessiert und seine/ihre Wissbegierde dafür modelliert/verändert die Haltungen auch im sich öffnenden System, etwa einer Familie. Wenn wir uns in einer bestimmten Angelegenheit, in der Begegnung mit anderen als (noch) Nicht-Wissende verstehen, sind wir besser dran, als wenn wir ein Wissen, das wir nicht haben, jedoch meinen zu haben (und daher 1. unsichere, möglicherweise fatale Schlüsse ziehen, dann 2. uns ungut verhalten – und  3. uns um Erwerb von Wissen nicht bemühen). In diesem Sinne ist der Philosophos jedem falschen Sophos überlegen.


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