Sonntag, 18. Juli 2010

Was ist "Philosophische Lebensberatung" ?

MORITZ GIROLSTEIN (Uni Gießen)

Philosophische Lebensberatung in der Gegenwart

Gliederung

I. Einleitung
II. IGPP - Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis
III. Theorien und Methoden
IV. Philosophische Praxis in Deutschland
V. Philosophische Beratung am Beispiel Roland Neyerlin
VI. Philosophische Beratung am Beispiel Bernadette Hagenbuch
VII. Schweizer Fernsehen: Sternstunde Philosophie (27.06.2010)


Philosophische Lebensberatung
in der Gegenwart


1981 eröffnet Gerd B. Achenbach eine erste >>Philosophische Praxis<<
in der Nähe von Köln/Bonn
(er prägte den Begriff, heute sind die Bezeichnungen „Philosophische Praktiker / philosophische Berater“ in Gebrauch)
Zeitgleich Praxeneröffnungen in USA,
‘philosophical counseling/counselor’ im anglo-amerikanischen Raum


"Philosophische Praxis" als Versuch, das reiche Potential der Philosophiegeschichte für die Beratung von Individuen fruchtbar zu machen
relativ junge, Anfang der 80er in Deutschland von Achenbach wiederbelebte Idee
Rasche Verbreitung, inzwischen auch mit internationaler Ausbreitungstendenz
 Nationale Verbände für Philosophische Praxis gibt es mittlerweile in Frankreich, Holland, Israel, Kanada, Irland, Osteuropa und den USA

Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis

1982 gegründet als „Gesellschaft für Philosophische Praxis“, 1998 in "IGPP" umbenannt
Arbeit an Theorie + Praxis des Philosophischen Praktizierens
Plattform, Netzwerk und Ort für kollegialen Austausch philosophischer Praktiker
Organ für Koordination + Kooperation der Arbeit in nationalen Gesellschaften für Philosophische Praxis.
eingetragener Verein, verfolgt ausschließlich gemeinnützige Ziele
2/3 deutsche Mitglieder, 1/3 Mitglieder aus ganz Europa, Südkorea, Nordamerika, Australien etc.
IGPP: 170 Einzelmitglieder + verschiedene Vereine



1. Internationale Konferenz :
1994 in Vancouver: Abgrenzung von der Psychotherapie viel Aufmerksamkeit eingeräumt

3. Internationale Konferenz :
1997 in New York. Theoriebildung Philosophischer Praxis und ihre Umsetzung in der Einzelberatung

10. Internationale Konferenz:
August 2010 in Holland: “Experience in Philosophical Practice”




Internationale Gesellschaft für Philosophische Praxis
Selbstverständnis:

 keine Aufforderung zu speziellem Konzept Philosophischer Praxis
Phil. Praxis als vernünftiger aber noch zu entwickelnder + zu klärender Inhalt
Phil. Praxis nicht reduzierbar auf Lebensberatung
 verbunden mit Aufklärung, selbstkritischer Vernünftigkeit, Reflexion
findet Anfänge setzende Ausprägung in „Lebensform“ der Praktizierenden
„Philosophische Praxis“ unterliegt nicht der Definitionsmacht einzelner, auch nicht einer Gesellschaft –
 weder von den Anfängen her noch heute


„Philosophische Praxis“ will Menschen mit allen Fähigkeiten dienen, die mit Freiheit + Vernünftigkeit kompatibel sind
niemanden beschädigen, behindern, entmündigen, isolieren oder entsolidarisieren
kritische Diskussion der persönlich zu gestaltenden Praxisformen
 IGPP weder ein Berufsverband noch eine autorisierte Anstalt zur Ausbildung und Zertifizierung

Theorien und Methoden

Anfangs kaum theoretische Konzepte und Orientierungen
teilweise explizite Ablehnung von Konzepten und Modellen
 philosophische Praxis als persönlicher + individueller Versuch,
Einengungen und Begrenzungen vorgegebener Theorien zu entgehen
Beschreibung des Vorgehens ist hier oft relativ vage und unbestimmt
philosophische Beratung als Beratungspraxis nach eigenem Entwurf
eine Art des „freien Philosophierens“

 Methode dann hauptsächlich abhängig von:
Persönlichkeit des Beraters
Bildungsgeschichte und
Hintergrundwissen
persönlichen Erfahrungen im Sinne der eigenen Lebenspraxis
kommunikativen Fähigkeiten


Zu Grunde liegende „Theorien“ als Allgemeine Prinzipien konstruktiver Kommunikation
Methoden die Berater anwendet stehen „Instrumente“ auch Klienten zur Verfügung
soll Fähigkeit der „Selbstberatung“ entwickeln
Betrachtung von Klient als einen philosophierenden Menschen
Wissensvorsprung dazu einsetzen ihm bessere Mittel + Instrumente, evtl. Inhalte + Sichtweisen/Perspektiven an die Hand zu geben
 damit dieser sie zu eigener Reflexion anwenden kann


„Methodische Instrumente“ nach Raabe (2001):

Begründungen geben
Schlussfolgerungen durchführen
Argumente einschätzen
Verallgemeinerungen + Analogien benutzen
Annahmen in Frage stellen + rechtfertigen
nach Konsistenz streben
Unterscheidungen und Verbindungen herstellen
Hypothesen formulieren und prüfen
Beispiele und Gegenbeispiele anbieten
andere Menschen und ihre Sichtweise respektieren
u.v.m….



Die bisherigen Texte zur philosophischen Beratung sind meist Praxisberichte (kollegialer Austausch)
Bezug auf Ansätze anderer Praktiker ist eher die Ausnahme als die Regel
Umfassendere Theoriebildung auf Basis des bisher vorgelegten Erfahrungsmaterials?
Die ersten inzwischen vorgelegten umfangreicheren Arbeiten sind teils im akademischen Umfeld entstanden (siehe: Ruschmann)


Lou Marinoff: fünfstufiger Prozessverlauf: PEACE


Problem
Emotions
Analysis
Contemplation
Equilibrium


Breites Spektrum von Ansichten bezüglich Beziehung zu Klient:


Teilweise Negation des professionellen Charakters philosophischer Beratung

Achenbach:
Laien als denkbar beste philo. Berater

Hans Krämer: asymmetrische Beziehung, Kompetenz- und Erfahrungsgefälle
Anleitung zu und Belehrung über
mögliche Mittel im Beratungsprozess
(im Sinne der antiken „beratenden Philosophen“)


Aber: Wissens- + Erfahrungsvorsprung muss kein „Gefälle“ mit sich bringen!

 Ratsuchender steht als Mensch gleichwertig neben dem professionellen Berater
 Dieser stellt seine Zeit und seine philosophische Kompetenz zur Verfügung

Philosophische Praxis in Deutschland
Berufsverband für philosophische Praxis + IGPP
Zahl der Philosophischen Praktiker noch relativ klein
Deutlich mehr Websiten als wirklich florierende Praxen
Etwa 50 gut laufende Praxen in Deutschland
Davon 10 , die sich ausschließlich durch philosophische Praxis finanzieren
Viele üben neben Beratertätigkeit einen anderen 1. Beruf aus, um den Lebensunterhalt zu sichern
(Lehrer, Therapeut, Programmierer, Kurse, Seminare etc.)
Ursprünglich Lebensberatung, mittlerweile viele verschiedene Tätigkeiten

Philosophische Beratung noch weit davon entfernt, eine bemerkbare Rolle im Feld der Beratung einzunehmen
Aber: Tendenz steigend

Roland Neyerlin Als Philosoph auf der Walz

Lebenslauf:

1952 Geburt in Laufen

1975 Primarlehrdiplom in Luzern

1980 Heilpädagogisches Seminar Zürich (Diplom)
Mehrjährige Tätigkeit als Primarlehrer und Heilpädagoge
Studium der Philosophie und Theologie in Luzern und Berlin

1990 Lizentiat an der Theologische Fakultät Luzern

seit 1988 Philosophielehrer und SchülerInnen-Berater am Gymnasium Immensee
Mitglied des Schweizerischen Presserates
Mitglied der Schulpflege der Stadt Luzern
Mitinhaber einer Philosophischen Praxis in Luzern

Seit acht Jahren Betreiber einer Mobilen Philosophischen Praxis
“ständig auf der Walz“: geht zum Philosophieren zu den Menschen
Philosophieren vollzieht sich überall dort, wo Menschen arbeiten, lernen, lieben, feiern und auch sterben
Praxis (griechisch: Handlung)  Wo gehandelt (nicht behandelt!) wird, ereignet sich Philosophische Praxis
Handlung ist das Gespräch, das Philosophieren selbst
Philosophiert in Schulklassen, Unternehmen, Küchen, Ateliers, Kirchen, Alters- und Pflegeheimen, Spitälern oder Restaurants,
„Philosophische Praxis = Weg-Erfahrung“
Am dringlichsten beschäftigen die Menschen, zu denen er kommt, Fragen der Orientierung
Siehe auch: Roland Neyerlin Als Philosoph auf der Walz, in: Roth/Staude (Hg.), Das OrientierungsLos. Philosophische Praxis unterwegs, Konstanz 2010, 21-28

Will kein Lotse sein, der sicher durch unsichere Gewässer führt
 verweigert sich bewusst als Orientierungs- und
Sinn-Überbringer
Qualität eines Beraters lässt sich am Grad seiner Bescheidenheit ablesen
philosophische Beratung: eigenes bescheidenes Wissen mit Wissen anderer zusammenzubringen + daraus Lernprozesse gestalten
 dialogisch nach Erkenntnissen und Wegen suchen
 Neuformulierung theoretischer Rahmenkonzepte für das gesellschaftliche Zusammenleben
 als Einübung in eine gute Lebensführung
 Philosophie nicht nur als Wissenschaft, sondern immer auch gelebte Technik der Lebensgestaltung

Bernadette Hagenbuch Philosophische Beratung als Orientierung in der Krise

Biographisches:

Ausbildung und mehrjährige Tätigkeit als Physiotherapeutin
Studium Geschichte und Philosophie in Basel
Tätigkeit als Bibliothekarin und Historikerin
3-jährige Ausbildung als Integrative Coach
Beratungstätigkeit seit 2006
Bernadette Hagenbuch, "Philosophische Beratung als Orientierung in der Krise", in: Roth/Staude (Hg.), Das OrientierungsLos, Konstanz 2010, 10-14. Siehe auch: Anette S. Fintz, "Die Kunst der Beratung", Bielefeld 2006

Philosophische Beratung als Raum, in dem Fragen, Zweifel und Nöte von Ratsuchenden Platz haben
Emotionen wie Angst, Wut, Verzweiflung und Unsicherheiten werden erst einmal gehört

1. Erster Schritt: Gespräch über momentane Lebenssituation
dialogischer Austausch mit Gegenüber
 Formulieren der gegenwärtiger Probleme



2. Nächster Schritt: individuelle Situation auf allgemeine Gesichtspunkte hinterfragen
Drei Kriterien der Logotherapie sehr hilfreich:
der Mensch strebt grundlegend nach Sinn
hat Fähigkeit zu Selbstdistanz und
Selbsttranszendenz (Selbstüberschreitung)

3. Nächster Schritt:
Lösungsstrategien + Handlungsmöglichkeiten erarbeiten
Selbstverständliches wird hinterfragt
Wahrnehmungen, Gefühle, Vorstellungen werden transparent

 es wird deutlich, dass diese wieder neu bestimmt werden können
 - dies führt zu Unsicherheit
 - es birgt die Möglichkeit zur Veränderung

 Freiheit, das Leben eventuell in Aspekten neu auszurichten und Handlungsmuster zu verändern


Schweizer Fernsehen:
Sternstunde Philosophie
vom 27.06.2010 Martina Bernasconi , Roland Neyerlin

Quellen

Das OrientierungsLos: Philosophische Praxis unterwegs, Volkbert M Roth, Detlef Staude (September 2008, reprint 2010)
Philosophie und Beratung, Eckart Ruschmann, Das Handbuch der Beratung, Tübingen: dgvt-Verlag 2004
http://www.philosophischepraxis.de
http://www.michael-funken.de/information-philosophie/philosophie/praxisposi.html
http://www.igpp.org

http://www.philopraxis.ch
http://philopraxis-feigenblaetter.blogspot.com

Mittwoch, 14. Juli 2010

DasOrientierungsLos

Die Hardcover - Version ist vergriffen. Es läuft der Nachdruck als softcover.
In der "Sternstunde Philosophie" 27.06.2010 war aus dem Beitrag PHILOSOPH AUF DER WALZ von Roland Neyerlin zitiert worden. Ab FR lässt sich das wieder im Zusammenhang lesen.
SinnPraxis@gmail.com